„Fegefeuer in Ingolstadt“ von Marieluise Fleißer am Berliner Ensemble, Regie Manfred Karge

 

 

 

Frust, Hass und Gewalt

 

Drahtkäfige, gebräuchlich als Volie­ren zum Einsperren von Hunden oder Vögeln, repräsentieren in Manfred Karges Inszenierung Ingolstadt, den Ort, an dem Marieluise Fleißer in ih­rem Schauspiel ein Fegefeuer aus ideolo­gischem Fanatismus entfacht (Bühnenbild Dieter Klaß). Was in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts für junge Leute einer Kleinstadt Peinigung und Terror be­deutete, ist im Vergleich mit heutigen Dimensionen religiöser Borniertheit zwar reines Kinderspiel, doch als theatrale Ver­anstaltung - auch wegen des 100. Ge­burtstages der Autorin - noch immer be­merkenswert. Zumal es höchst aktuelle Gründe gibt, über Ursachen von Hass und Gewalt in der Gesellschaft nachzudenken.

Katholische Klostererziehung war zu­sammengeprallt mit den Sturm- und Drang-Werken Brechts, hatte die junge Marieluise Fleißer (1901-1974) stimuliert zum Versuch, sich ihren Frust mit einem Stück von der Seele zu schreiben. Zwei junge Leute, Olga aus armem und Roelle aus begütertem Hause, werden wegen ih­res Lebenswandels zur Zielscheibe von Hass und Spott. Olga bekommt ein Kind, wahrscheinlich von Peps, dem Orts-Casanova - und wird verleumdet; Roelle stili­siert sich, um aufzufallen und zu gefallen, zum religiös Besessenen - und wird für gelangweilte Ministranten zum Anlass für ein übles Gaudi. Schließlich nutzen ge­walttätige Jugendliche das Gerücht von einer Liaison zwischen Olga und Roelle zu einem Kesseltreiben.

Das von mittelalterlich anmutendem spießbürgerlichem Machtdenken domi­nierte kleinstädtische Geschehen, vom Bühnenbildner als soziale Metapher gefasst, phasenweise scheinbar eher reif fürs Panoptikum, zumindest die Auftritte des Individuums Protasius (Tobias Hof­mann), nimmt Regisseur Manfred Karge gleichsam als naturgegeben unabwend­bar und insofern als eine ernst und also gründlich auszuspielende menschliche Angelegenheit. Ein gewisser neurotischer Drall der Gestalten mischt sich mit deren muffiger Spießigkeit. Die Alten leben engstirnigen Machthunger vor. Dabei über­zieht Veit Schubert als Vater Berotter, gibt den Trinker zwar hochdifferenziert, doch um eine gute Idee gestisch zu aufwändig. Lore Brunner charakterisiert überzeu­gend die tragikomische Borniertheit der Mutter Roelles.

Authentisch ist Stephanie Schönfeld als Olga in ihrer leidenschaftlichen Sinnlich­keit, ihrem Lebensanspruch. Sie scheint so realpraktisch, und handelt doch so be­schränkt befangen in ihren kleinbürger­lich motivierten Denkstrukturen. Wäh­rend sie aber immerhin noch eine Art leise Hoffnung mitspielen kann, dass solch jun­ger Mensch letztlich herausfinden wird aus provinzieller Verstrickung, hat es der Darsteller des Roelle schwerer. Dieser junge Mann sagt sich zwar von der Mutter los, die ihn gnadenlos egoistisch okkupiert hat, aber reaktionäre Erziehung und ebenso reaktionäres Umfeld haben ganze Arbeit geleistet. Stephan Schäfer gibt den wasserscheuen Roelle steif nicht nur im Geiste, sondern auch im Körper. Demütig notiert er auf Geheiß der Mutter seine »Sünden«, versucht verzweifelt die zehn Gebote zu verinnerlichen, in dem er sie aufisst - doch dann speit er sie aus ...

 

 

 

Neues Deutschland, 11. Oktober 2001