„Fegefeuer in Ingolstadt“ von Marieluise
Fleißer am Berliner Ensemble, Regie Axel Richter
Distanzierter Blick auf eine Kleinbürgerwelt
Eine Beschäftigung mit dem Werk von
Marieluise Fleißer (1901-1974) war gewiß an der Zeit. Das Berliner Ensemble
besorgte jetzt die DDR-Erstaufführung ihres Schauspiels „Fegefeuer in
Ingolstadt". Logischer Anlaß ist Bertolt Brechts 90. Geburtstag im
kommenden Jahr.
Die Dichterin gehörte zu Brechts dramatischem
Umfeld, selbst wenn ihr schwärmendes Zutrauen bald schwand. Die ganz und gar
aus der lyrischen Empfindung Schreibende hatte dem rational denkenden Brecht,
den sie 1924 kennenlernte, bald nicht mehr folgen können. Brecht hatte ihren
Erstling „Die Fußwaschung" nach Berlin an die Junge Bühne vermittelt, wo
das Stück 1926 in der Regie von Paul Bildt in einer einmaligen Matinee unter
dem Titel „Fegefeuer in Ingolstadt" uraufgeführt wurde.
Die am Ort des Geschehens geborene Marieluise Fleißer hatte im Institut der Englischen Fräulein, einer Klosterschule in Regensburg, sechs Jahre eine streng katholische Erziehung genossen. Mit diesem Schauspiel befreite sie sich davon psychodramatisch. Sie analysierte, in seelische Tiefen bohrend, den Zustand des Eingesperrtseins religiös dogmatisierter junger Leute in eine „unerlöste" (Fleißer) kleinbürgerlich-bigotte Gesellschaft bayrischer Provinz.
Ihre Jugendlichen versuchen keineswegs
auszubrechen. Das hat insbesondere die Hauptfigur, Roelle, der mit religiöser Schwarmgeisterei
um Anerkennung bei seinen Altersgenossen buhlt, längst aufgegeben. Er glaubt
nicht mehr an eine „Bewegung nach oben". Unter dem Druck ihrer frömmelnden
Borniertheit martern sich die Mädchen und Jungen gegenseitig. Und dies, obwohl
ihre Konflikte eigentlich zeitlos normal sind; sie entstehen aus den
alltäglichen Nöten sexuell erwachender, unaufgeklärter junger Menschen.
Olga, Tochter des armen Berotter, behauptet,
von einem fragwürdigen Jungen namens Peps ein Kind zu bekommen. Dieser aber
pfeift auf sie. Den aufdringlichen Roelle aber, der ihr ergeben nachsteigt,
weist sie ab.
Die Fleißer hat die Hoffnungslosigkeit ihrer
Nachkriegsgeneration eingefangen. Zugleich schwelt bereits „faschistoides
Grundverhalten", wie es die Dichterin 1972 nannte. Da sie aus der
Eingebung schrieb, aus den Tiefen ihrer Triebe und Ängste, aber natürlich nicht
unbeeinflußt durch literarische Strömungen ihrer Zeit, durchdringen sich in
ihrem Stück Naturalismus, Expressionismus und Surrealismus auf einzigartige Weise.
Auffallend die Autonomie des Textes.
Sprechblasen, aufgereiht, poetisch dicht, prall. Die Autorin bediente Vorgaben
des „Ersten Manifestes des Surrealismus" von André Breton aus dem Jahre
1924 und schrieb ein „Dank-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft,
jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung". Diesen verborgenen
„Supernaturalismus", wie der Surrealismus von seinen Erfindern gern auch genannt
wurde, suchten Axel Richter (Regie) und Klaus Noack (Bühnenbild und Kostüme)
mit ihrer szenischen Deutung offenzulegen. Ich halte dies für ein legitimes
Experiment, obwohl es eben nur eine Seite des Werkes erfaßt.
Das Bühnenbild markiert das Eingesperrtsein.
Ein grauweiß gehaltener, nüchtern-kahler viereckiger Innenraum mit Wohnzimmerstuck
an der Decke und vier ordinären Lampen, einem von unten bizarr leuchtenden
Fußbodenrost, einem Verschlag hinten links als seitlich enge Öffnung nach
draußen.
In dieser mit sezierender
Schärfe gebauten, letztlich sterilen Kunstwelt können elementare, wenn auch
schlimm verklemmte Gefühle in der Pubertät junger Leute nicht aufleben. Gezeigt
wird folgerichtig und mit einfallsreicher ästhetischer Fertigkeit die Persiflage
des Stückes.
Die Besetzung der Rollen
erfolgt teils alternativ. Den alten Vater Berotter skizziert der junge Michael
Kind. Annemone Haase führt die junge Olga akkurat vor und spielt — in der Maske
der gealterten Fleißer — die Perspektive der Figur: eine alte, demütige
Jungfer. Renate Richter charmiert als kindlich-frische, gelegentlich ungestüm
plärrende Halbwüchsige.
Die Ministranten (Barbara Dittus, Jürgen
Watzke) sind schlumprige Clowns. Das Individuum Protasius (Peter Kalisch)
geistert herum mit einem Zug ins Irrationale, dessen Spießgeselle Gervasius (Corinna
Harfouch) schlängelt sich grazil-wendig um Tisch und Personen. Der Bub
Christian (Herbert Olschok) hat bayrisch-deftige Protzigkeit, der Peps (Jürgen Watzke)
fläzt sich mit breitbeiniger Fülle. Roelles Mutter (Angelika Ritter) ist die
liebenswürdige Karikatur einer Kleinbürgerin.
Dazwischen Michael Gerber als Roelle. Er
kontert die Persiflage. Er zeigt nicht, er spielt — direkt, unmittelbar,
konkret zeichnend — den Sinn der Rolle. Aus religiöser Verbohrtheit, sexueller
Not, eitlem Zynismus formt er eine erbarmungswürdige Kreatur im strengen
Korsett der Erziehung. Gerber erschüttert, ohne Anteilnahme zu erheischen.
Seine unverstellte, differenzierte Menschendarstellung bringt überzeugend den
realistischen Kern des Stückes ins Bild.
Neues
Deutschland, 12. November 1987