„Faust“ von Goethe am Schauspielhaus Hamburg, Regie
Christoph Marthaler
Faust – reduziert auf eine Formel
Langeweile hoch zwei! Bei Christoph Marthalers dreist ambitionierter Goethe-Collage „Faust Wurzel aus eins und zwei", einer szenischen Rezitation des deutschen Schauspielhauses Hamburg. Die Angelegenheit besteht aus dem Abgeben von Statements, vorwiegend melancholisch und leise, zuweilen pathetisch und laut. Wobei die Summe der Deklarationen eine vage Botschaft ergibt, die sich, da es um die „Wurzel" aus Faust I und II geht, auf eine halbe Stunde hätte konzentrieren lassen. Weil dies aber keinen Theaterabend ausmacht, wurde allerhand darstellerischer Leerlauf dazu erfunden.
Nun bin ich dem Schweizer Marthaler eigentlich gewogen. Sein
„Murx den Europäer..." an der Berliner Volksbühne hatte Pfiff,
hintergründigen Humor und vor allem einen geistigen
Drehzapfen, nämlich die sarkastische Verhohnepiepelung des manipulierbaren vaterländischen
Bundesbürgers. Die ganze Sache war eine Originalerfindung.
In Hamburg versucht sich Marthaler an Goethe.
Und der steht ihm im Grunde im Wege. Vor allem Faust, dieser Bürger im
Aufbruch, dieser vertrackte deutsche Intellektuelle, der vom Leben und der
Zukunft noch etwas wollte. Der Bearbeiter hat ihn seines besonderen Saftes
beraubt, gibt ihn weder als Zauberer und Schwarzkünstler noch als genialen
Denker, sondern als blutleeren, schläfrigen Penner.
Den Faust wie die übrige Personnage sperrt der Collagierer in eine Art
Kathedrale (Bühnenbild Anna Viebrock), bei der sich an der Stelle des Altars
eine Drehtür befindet und darüber eine sich nie öffnende Fahrstuhltür. Hinter
dieser ist mehrfach betriebsames Getöse zu vernehmen, bei welchem die
Rezitatoren prompt andächtig verstummen. Was offenbar heißen soll: da draußen
ist gewaltig was los. Sagenhafte Lemuren werkeln an der Welt. Faust (Josef
Bierbichler) und sein Wagner (Siggi Schwientik) versuchen denn auch immer mal
wieder, durch die Tür nach draußen zu kommen. Aber das
mißlingt. Es dreht sie immer wieder zurück in die Kathedrale.
Drinnen gibt's Mephisto in mehrfacher
Ausfertigung, eine Mischung von Psychiatern, Wissenschaftlern und Spinnern,
die sich gelegentlich wie Kinder verkloppen. Den Herrn, einen von ihnen, treten
und quälen sie. Ein anderer von ihnen, mit Aktentasche, sozusagen der
bürokratische Mephisto, will sich immer mal nach unten davonstehlen, was ihm verwehrt
wird. Gretchen erhebt sich mehrmals aus einem Wandklappbett, vertreten
schließlich in vierfacher Ausfertigung.
Diese Figuranten sagen Goethe auf, ein willkürlich anmutendes
Text-Substrat, wobei sie allerlei absurde Spielereien ausführen. Leichte
Belebung bringen Gesänge, Ausschnitte aus Volksliedern, Schlagern, Opern.
Faust, meist apathisch auf einem Stuhl hockend, gelegentlich schlafend, zu Gretchen
nie findend, vor ihrem Bette verharrend, Faust - um von der vagen Botschaft zu sprechen
- hat zwei „Kernszenen".
Die erste: Er versucht sich zu artikulieren. Er stammelt
Laute, dann Buchstaben, fast endlos. Endlich schafft er ein Wort und die
berühmte Frage, gerade noch auszumachen,
nach
dem, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die zweite, pathetisch herausgestellt,
jener berühmte Hinweis: „Wer immer strebend sich bemüht..." Danach
versinkt Faust wieder in Sprachlosigkeit. Opernde Verklärung beschließt sein
Schicksal.
Nach kurzer Zeit schon verließen einzelne Zuschauer das Theater.
Eine Stunde später waren es Gruppen. Am Ende lautes Buh. Auch leidenschaftliche
Bravos. Gewiß, irgendwie wurde ironisch die absolute Trostlosigkeit unserer
Tage assoziiert, die Nulligkeit des Faustischen. Aber müßte man mit Goethe
nicht just gegen die Misere halten? Statt ihn auf eine läppische Formel zu
reduzieren? Armes deutsches Theater. Deine Macher manövrieren dich in die
Bedeutungslosigkeit. Ein fatales Finale des 31. Theatertreffens Berlin.
Neues
Deutschland, 21. / 22. Mai 1994