„Faust“ von Goethe am Staatsschauspiel Dresden, Regie Wolfgang Engel

 

 

 

 

An wen ist der Besitz geraten?

 

Wer zur Wiedereröffnung des Schauspielhauses in Dresden zufällig den rechten Aufgang zum 1. Rang benutzte, um zu Wolfgang Engels „Faust "-Inszenierung zu gelangen, konnte entdecken, daß die Goethe-Büste beim Namensschild „Friedrich Schiller" platziert worden war (bis zur Pause, dann war der Irrtum korrigiert). Natürlich ließ sich niemand durch solche „Verfremdung" verschrecken, selbst wenn ihn im Saal die bis zum 2. Rang hochreichende legendäre Brecht-Gardine begrüßte.

Als dann nach Öffnung des Vorhanges die Darsteller Wolfgang Engel und Christoph Hohmann aus der Bühnentiefe nach vorn zur Rampe schritten, sich die Hände reichten, die Zueignung sprachen (wunderbar sinnfällig!), prompt zu Fausts Kellerloch-Monolog übergingen, fröhlich ins Bett stiegen und sich schmatzend küßten — da war allerdings klar: Hier wird drei Abende lang total verfremdeter „Faust" gespielt werden.

Wolfgang Engel verzichtete auf den Prolog im Himmel, auf die eigentliche Tragödien-Exposition: die zwar nicht abgeschlossene, aber stückprogrammatisch erörterte Wette zwischen dem Herrn und Mephistopheles über Wert und Zukunft der Menschheit und über die Frage, ob Faust als „guter Mensch in seinem dunkeln Drange" sich „des rechten Weges wohl bewußt" sein oder ob er „mit Lust" Staub fressen werde. Statt dessen macht der Regisseur, sozusagen aus heiterem Himmel, einen doppelten Faust zur „mageren Schnur" einer Leitidee.

Was sich der altmeisterliche Theaterdirektor Goethe eigensinnigerweise als widersprüchliche Aufgabe für einen Schauspieler gedacht hatte, arbeiten zwei ab. (Das führt überraschend zu durchaus reizvollen Lösungen. Etwa im Disput mit Wolfgang Gorks' gar nicht schrulligem Wagner oder beim Osterspaziergang, wenn der eine Faust sich im Freien ergeht, der andere die Huldigung der durch das Fenster bis ins Zimmer eingedrungenen tierisch-skurrilen Bürger über sich ergehen läßt.) Doch damit nicht genug. Die beiden Darsteller übernehmen auch noch den Text des Hexenbarons Mephistopheles. Das macht die Schnur noch magerer, verfranzt alle Sinn-Zusammenhänge.

Wenn es an der Zeit ist, schnallt sich Hohmann am umgestürzten Bett fest, krümmt sich, winselt, röchelt und schreit. Und Engel wettert mal schnell mit dem geplagten Pudel. Dann ist die Sache ausgestanden. Ironisch wird über den blutig-höllischen Pakt hinweggehuscht. Unvermittelt ist Hohmann ein walkman-hörender Halbwüchsiger, den Engel nach „drüben" in die weite Welt locken möchte (die ursprünglich mit „drüben" gemeinte Signalwirkung - Probenbeginn 1988 — bleibt aus, der eigentliche Gehalt stellt sich aber auch nicht her). Wieder stehen sich beide Darsteller gegenüber, legen die Hände ineinander. Hohmann stockt: „Werd' ich zum Augenblicke, eh..."

Fortan hat es der Zuschauer mit zwei vitalen Kumpanen zu tun. Da unter der Hand das Diabolische entfällt, auch gar nicht gewollt scheint, verflüchtigt sich der konflikt-stimulierende Geist, der stets das Böse will und stets das Gute schafft. Was bleibt, ist kritische Schalkhaftigkeit zweier ziemlich weltlicher Gesellen im rigorosen Umgang mit irdischen und auch mit mythologischen Kalamitäten.

Unvermittelt ist die Szene Auerbachs Keller als Hexenküche. Engel und Hohmann, im Habitus reiselustiger Intellektueller, mischen sich unter großmäulige, gesichtslose Spießer. Die Hexe (Marita Böhme) tummelt sich. Als Hure sitzt Gretchen schon dabei, läuft dann bühnenquer, wird von Hohmann belästigt, von Engel aber reputierlich angesprochen.

Margarete (Susanne Böwe) wohnt in einem typischen DDR-Neubau-Wohnblock (Bühnenbild: Frank Hänig) und hat in Marthe Schwerdtlein (Vera Irrgang) eine lebenspraktische Nachbarin. Mephistos Antrittsbesuch bei den Frauen begibt sich im Treppenhaus. Hier zeigt sich Engels außergewöhnliches Gespür für die realistische Substanz einer Szene: Während der Teufel (Hohmann) mit Gretchen charmiert, erzählt er Marthe nebenher vom Tode ihres Mannes. Solch figurenkonkretes Spiel wird möglich, weil Engel ausnahmsweise eine Person ins Treffen schickt.

Denn — ich kann es nicht anders sagen — das ist ein arger Schönheitsfehler des dreitägigen Marathons: Durch den ständigen Wechsel, womit offenbar ein gespaltenes titanisches Über-Ich beschworen werden soll, findet bei den Hauptfiguren Schauspielkunst nur partiell statt (allerdings stets rational glänzend gegliederte, auf den Punkt gebrachte Rhetorik). Noch mehr geht leider verloren: die Liebe zwischen dem aufblühenden Weib Margarete und dem zu Jungmännlichkeit erwachten Faust. Während vor Jahren Christoph Schroths Faust-Bearbeitung in Schwerin vor strotzender Sinnlichkeit schier aus den Nähten platzte, lebt sich hier freundlich-ironische, spröd-ungeschickte oder einfach rüde Aufdringlichkeit aus. Und das stets doppelt.

Die Walpurgisnacht im Harzgebirg bietet Engel als feuchtfröhliche Hausgemeinschafts-Fete. Die Goetheschen Geister entpuppen sich als verspießerte, ordinäre Sauf- und Grölbrüder. Unterdessen plagt sich Gretchen mit den Wehen, steigt dann auf den winterlichen Dachgarten und legt sich lang. Schnee fällt auf sie nieder. Sie scheint dahinzuscheiden. Und Direktor (Peter Kube), lustige Person (Jürgen Haase) und Dichter (Tom Pauls) vom Vorspiel, das jetzt zwischengespielt wird, sehen sie nicht. Die drei sind mit sich selbst beschäftigt.

Am zweiten Abend steckt Gretchen aber ziemlich munter in einem schaukelnden Käfig und agiert in geläutertem Wahnsinn. Unvermittelt gehört sie zu den Schlafgehilfen, die beide Fauste/Mephistos für die kaiserliche Pfalz schick machen. Nun folgt eine famose Parodie auf Ex-Politbüro und Noch-Volkskammer. Oder ist's schon überholt? Man traut jedenfalls seinen Ohren kaum, aber es steht wirklich bei Goethe. Etwa: „Ach, Herr, in deinem weiten Staate / An wen ist der Besitz geraten? Wohin man kommt, da hält ein Neuer haus..." Oder: „Wir haben so viel Recht hingegeben, / Daß uns auf nichts ein Recht mehr übrig bleibt." Hier entzündet sich Engels Regie-Phantasie, hier brillieren Schauspieler wie Albrecht Goette (Kanzler), Rainer Müller (Heermeister), Joachim Nimtz (Schatzmeister), Günter Kurze (Marschalk) und Puter Kube (Herold).

Noch ergötzlicher ist dann, wenn der Regisseur des Dichters Stichworte „Blättchen" und „Wechsler" nutzt, um am kaiserlichen Hof die Geldkarte und den Geldautomaten einzuführen. Wer hier Faust, wer Mephisto scheint jetzt tatsächlich nebensächlich. Doch sobald Fausts Begehren auf Helena aufkommt, ist die Doppelung wieder ärgerlich. Indessen bemüht sich Engel redlich, beim monströs-akademischen Bildungsgang durch die klassische Walpurgisnacht zwischen den wuchernden Symbolen einen Fabelzipfel zu erhaschen.

Goethe, in seinem dunklen Drange, hat bekanntlich lebenslang am „Faust" herumgedoktert. Die tüchtige Ausführlichkeit kann Engel selbst mit drei Abenden nicht ausschreiten. Seine das Incommensurable deutenden Einfälle verschmelzen Poesie innig mit Profanität. Wenngleich ich meinen Eindruck nicht verhehlen kann, daß ein Treffen mit „thessalischen Hexen" auf dem Schlachtfeld von Pharsalus, arrangiert vor einer sterilen Kulissen-Fensterfront, letztlich der Poesie einiges schuldig bleibt. Beispielsweise die Begründung für des nordischen Teufels Groll auf die Griechen, bei denen nicht die Spur des Harzer Dunstes zu riechen sei. Günter Kurze ist immerhin ein herrlich eifriger Neptunist Thales, der dem Homunculus (Tom Pauls) ins rettende, allesgebärende nasse Element verhilft.

Die klassizistische Strenge des dritten Aktes, dessen Versmaßauftakt in Trimetern und Jamben, löst Engel mit Filmeinblendungen szenisch auf. Eine schlanke, zarte Helena (Katherina Lange) huscht durch den zerfallenen Palast des Menelaos von Sparta. Der als häßliche Phorkyas agierende Mephisto (Engel/Hohmann) verkündet ihr Unheil, bietet Rettung. Drauf findet Faust (Hohmann) unweit des Weimarer Goethe-Gartenhauses die scheue Schöne.

Mephisto (Engel) führt als smarter Conférencier hinüber zu Euphorion, dem Sohn Fausts und Helenas. Der Knabe, Kind der abendländischen und der antiken Dichtung, gerät zum Entsetzen seiner seriösen Eltern auf eine schlimme Bahn. Bei Engel ist er ein ohrenbetäubend phonstarker Rock-Star, der schließlich übermütig mit dem Motorrad in den Tod rast. Helena folgt ihm in die Tiefe.

Nun sinnt Faust auf Eigentum. Auf Anraten des Teufels bewährt er sich als Militär für den Kaiser. Wonach der Regisseur eine kurze Persiflage des Prologs im Himmel montiert, eine höhnische Attacke auf die Gläubigkeit an das ewig Strebende. Dann tritt der Wanderer auf: Goethe höchstselbst. Der Dichter bekommt Gelegenheit, den vom Mephisto getäuschten, vermeintlichen Landbesitzer zu korrigieren, der, erblindet und ermattet, falsch zitiert. Goethe fordert: „Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn."

Im übrigen hat der Regisseur seine magere Schnur verlassen. Hohmann spielt in Gründgens-Maske den Mephisto, Engel den sterbenden Faust. Nachdem es geschehen, sehr irdisch, etwas lapidar, etwas rührselig, preist der Teufel das „Ewig-Leere" und bläst einen blauen Luftballon auf, bis er zerplatzt...

Ein schöner Spaß. Bravo-Rufe, lang anhaltender Beifall. Das Staatsschauspiel Dresden ist nach wie vor eine erste kulturelle Adresse.

 

 

Neues Deutschland, 3. September 1990