„Faust“ von Goethe, 1. und 2.Teil, am Staatstheater Schwerin, Regie Christoph Schroth

 

 

Eine Frau spielt den Mephisto

 

 

Die zwei Teile von Goethes „Faust" an einem Abend! Das dauert über fünf Stunden. Wer leistet sich so viel Zeit für Theater? Die Mecklenburger, wenn sie ihr Staatstheater in Schwerin besuchen! Dort haben Regisseur Christoph Schroth und sein Ensemble eine Bearbeitung in Szene gesetzt, die Publikum aus nah und fern herbeilockt. Natürlich kommt Schroth nicht ohne empfindliche Striche aus. Gewonnen aber wird ein schlüssiger Theaterabend: Fausts welthistorischer Aufbruch. Das ungeheure Panorama seiner Lebensstationen wird gezeigt, der Intellektuelle, der der mittelalterlichen Wissenschaft entsagt und sich nach langem, kämpferischem Leben zum frühkapitalistischen Unternehmer mausert. Vorgeführt wird alles als naiv-sinnfälliges Theaterspiel, souverän im Umgang mit dem Material und immer auf unmittelbare Kommunikation mit dem Zuschauer bedacht.

Da ist der glänzende Einfall, den Faust von vier Darstellern spielen zu lassen. Wolf-Dieter Lingk ist der um Erkenntnis ringende, schmächtige, weltfremd anmutende Faust der Studierstube. In Auerbachs Keller ist er todunglücklich. In der Hexenküche steht er fassungslos herum. Mephistos Hinweis, er könne ja auf dem Felde arbeiten, weist er verstört zurück. Die nackte Helena im Spiegel reißt ihn glatt von den Beinen. Nun wird er munter. Und der Hexe Lebenselixier verwandelt ihn.

Horst Kotterba ist der junge, ungestüme Faust, der Margarethe in lauterer Leidenschaft verfällt. Er hilft ihr beim Wäscheaufhängen in Marthes Garten. Er verabredet sich mit ihr zwischen zwei Mülltonnen. Und Margarethe examiniert ihn im Bett. Dies Gretchen (Bärbel Röhl) ist von herbsanfter Direktheit, geradlinig kräftig in seinem Lebenssinn, von heiliger Empörung in seiner Anklage gegen Gott.

Peer Jäger ist der gereifte, die «kleine Welt" Margarethes vergessende und sich der „großen Welt" zuwendende Faust. Beflissen dienert er am dekadenten feudalen Kaiserhof, das Papiergeld im Diplomatenkoffer. Er sorgt für des Kaisers (Hans-Jürgen Wildgrube) Mummenschanz. Neue Fährnisse nimmt er auf sich, um Helena herbeizuschaffen. Sein Zurücktauchen in die antike Welt wird von der Regie behutsam ironisiert. Seine Begegnung mit Helena (Barbara Bachmann) und beider Abschied von Sohn Euphorien (Hartmut Schreier) werden als unwirklich dargestellt. Hier hat es die Regie besonders schwer, Goethes Verschlüsselungen szenisch nachvollziehbar zu machen.

Heinrich Schmidt dann ist der sehr alte Faust, der selbstbewußte Unternehmer; der in seinem Besitzstreben über Leichen geht Die „Idylle" von Philemon und Baucis, der letzte Hort humanistischen Sinnens, wird vernichtet. Ohne Skrupel begegnet Faust der Sorge. Sie läßt ihn erblinden. Und der erblindete Faust verkündet die Sehnsucht vom „freien Volk auf freiem Grund", für ihn, den Kapitalisten, unerreichbar. Dennoch: Fausts Lebensweg hat sich vollendet, der immer strebend sich Bemühende kann erlöst werden. Und das geschieht prompt als possierlicher Theaterspaß.

 

Fausts Widerpart, Mephistopheles, wird von einer Frau gespielt. Das ist eine kühne Entscheidung. Das Teuflische als das Ewigweibliche? Die Frage stellt sich, erübrigt sich aber schnell. Lore Tappe gibt den Mephisto mit lockerer Selbstverständlichkeit, ganz undämonisch. Sie trägt eine graue Melone, ein graues Hemd über schwarzer Hose und ein schäbiges, stets offenes schwarzes Westchen. Das wirkt irgendwie salopp-bürgerlich, auch etwas burschikos. Dieser Teufel begleitet den Faust geradezu natürlich, unaufwendig, sich redlich plagend, halt das ewige Prinzip des Widerspruchs, das zum Leben gehört und am Leben hängt

 

Das ganze Spiel (Musik: Rainer Böhm) begibt sich in einem in die Bühne hineingestellten Guckkasten (Ausstattung: Jochen Finke), eine Art überdimensionale Wellblech-Garage. Sinnbild für die „kleine Welt". Aufgestoßen von Faust für den Osterspaziergang. Nach hinten weit geöffnet für die „große Welt".

 

Ohne Zweifel: insgesamt ein spektakuläres Unternehmen. Goethes „Faust" entdeckt weniger in der Schönheit der Sprache, vielmehr in seinem poetisch-realistischen Handlungsreichtum.

 

 

Junge Welt, 8./9. Dezember 1979