„Duell/Traktor“ von Heiner Müller, „Fatzer“ von Bertolt Brecht am Berliner Ensemble, Regie Heiner Müller

 

Keine Sieger mehr wird es geben

 

 

Von einem Regie-Ausflug zu Wagner in Bayreuth ist Heiner Müller ans Berliner Ensemble zurückgekehrt. Er hat sich an der Oper ausprobiert, Möglichkeiten verwesentlichter Aktion und Geste erkundet. Das Ergebnis ist jetzt bei seiner neuesten Kreation zu sehen. Für eigene Texte, "Findling", "Duell" und "Traktor" sowie für Bertolt Brechts "Fatzer" wuchtet er auf kahle Szene und an einen globigen Tisch inmitten der Bühne durch Kostüm und Maske zu ästhetischem Monument gestylte Gestalten, Archetypen gleichsam des elenden, des ewigen Proletariats.

 

Der Abend beginnt charmant mit einem Bonmot als Prolog. Eva Mattes fährt Erwin Geschonneck in einem Rollstuhl aus dem Hintergrund nach vorn zur Rampe. Sie schwärmt angerührt von den guten Menschen, die sie angeblich überall sieht. Geschonneck knurrt zunächst nur zurückhaltend. Doch als die Eva nicht lassen kann, die Menschen zu preisen, nimmt der Erwin seine Sonnenbrille ab, schaut noch einmal genau, macht eine traurige, abwehrende Geste und sagt: "Du kennst sie nicht!" (Beifall. Auch für die Wiederbegegnung mit einem großen Darsteller deutscher Bühne.) Womit die Widersprüche umrissen sind, die der Regisseur an diesem Abend ins Bild bringt.

 

Heiner Müllers Wort-Gebirge hören sich an wie Fragmente aus einer Zeit, die selber historisches Fragment geblieben ist. In "Findling" der Aufstand eines jungen Mannes (Uwe Steinbruch) gegen die Mauer in Berlin und gegen den Genossen Vater (Erwin Geschonneck), der sie mitgebaut hat und mit Verweis auf sein Schicksal im faschistischen Deutschland wie sein Leben verteidigt. In "Traktor" der Aufstand eines Traktoristen (Hermann Beyer) gegen den Hunger, den er helfen will zu besiegen und der ihm ein Bein kostet, als er im Brandenburger Land einen Acker pflügt, in dem lebensbedrohend noch Mienen des zweiten Weltkrieges liegen.

 

Die Akteure, einschließlich Eva Mattes, Erwin Geschonneck, Ekkehard Schall, Hans-Peter Reinecke, Jaecki Schwarz und Georg Bonn (der Sprecher des Abends), bauen die Texte wortgewaltig. Ihre Bewegungen sind ruhig, die Gesten sparsam. Der Vortrag ist gemessen, gedanklich klar und von unerbittlicher Emotionalität. In diesen markanten, kantigen, kruden Figuren kulminieren deutsche Schicksale, zerbrechen tragisch Hoffnungen auf eine bessere Welt. Das Theater selbst scheint wie ein wunder Muskel zu zucken, sich aufzubäumen, zu verkrampfen, zu lösen, ohne sich indessen ganz entspannen zu können. Man sitzt dabei, versteinert einmal mehr, hat keine Neigung mehr, Sinn im Chaos zu suchen. Schon ergänzt einen der Dichter, verweist auf die Unsäglichkeit der Geschichte. Per Mikrophon resümiert Heiner Müller seine Texte, sein Leben. Fast keine Frage mehr.

 

Antwort dennoch nach der Pause? Mit Bertolt Brechts "Fatzer"-Fragment? Zumindest ist da ein Hinweis auf Ursachen der Tragödie. Wenngleich der didaktische Sarkasmus des jungen Brecht spürbar noch unterlegt ist mit der proletarischen Hoffnung, die nach dem Ende des ersten Weltkrieges aufkam und natürlich das Debakel des Sozialismus nicht antizipieren konnte. 1927 wünschte sich Brecht den Egoismus ausgetilgt. Wie ahnungsvoll, wie weise, wie grotesk irrational!

 

In den Schützengräben des ersten Weltkrieges begreift der Prolet Fatzer, dass vor ihm nicht sein Feind, sondern sein Bruder verblutet, und dass er hinter sich nicht seinen Freund beschützt, sondern seinen Feind, den Bourgeois. Also beschließt er, in die Heimat zu gehen und irgendwo in einem Versteck auszuharren, bis der Krieg der Ausbeuter zu Ende ist. Er überredet drei Kameraden, mit ihm zu desertieren. Aber der gesunde Egoismus Fatzers, der ihn für das Leben entscheiden ließ, stellt ihm ein Bein, wird ihm zum Verhängnis, wenn er, lebenskräftig wie er eben ist, im Unterschlupf, den sie gefunden haben, mit dem Weib (Eva Mattes) seines Kumpels schläft. Daraufhin entscheiden seine Kameraden, ihn zu ändern, indem sie ihn abschaffen.

 

Heiner Müller nutzt die Vorlage zu großem theatralen Symbol. Auf der kahlen Bühne, auch jetzt im Zentrum der globige Tisch (Raumgestaltung Stephanie Bürkle/Mark Lammert), wird zum abstrakten Ereignis, was die Gesellschaft zu zerreißen droht. Die Proleten sind sich nicht einig, können sich nicht einig werden, reiben sich selber auf. Dreimal wird Fatzer gerichtet. Dreimal reißt er seine Richter mit in den Abgrund. Denn, lautet die Verkündung: "Keinen Sieger mehr wird es geben, nur noch Besiegte!"

 

Heiner Müller zeitnah, unerbittlich, böse, unverdrossen in den Fußstapfen des didaktischen Dialektikers Brecht. Allerhand Beifall. Buh-Rufe auch...

 

 

Neues Deutschland, 4.Oktober 1993