„Europa“ von David Greig in der Baracke des DT Berlin, Regie Katharina
Seidel
Wem gehört die Heimat?
Vermutlich nicht wegen des Themas, sondern wegen dramaturgischer
Schwächen wird das Schauspiel „Europa" des jungen Engländers David Greig in
der Baracke geboten, der mickrigen Spielstätte des Berliner Deutschen
Theaters. Der Vorteil dort: Der Zuschauer sitzt quasi mitten im Geschehen.
Auf dem Bahnhof einer kleinen, heruntergekommenen Provinzstadt irgendwo in Europa, wo eine Grenze die Systeme und die Welt teilte, strandet ein ehemaliger Eisenbahner aus dem ehemaligen Jugoslawien mit seiner im unseligen jüngsten Krieg offenbar mehrfach vergewaltigten Tochter. Die beiden wundern sich, daß kein Zug mehr hält. Der Vorsteher des geschlossenen Bahnhofs weiß noch von den Zollkontrollen, jetzt aber sieht er sich vor der Abwicklung. Entlassung blüht auch seiner Tochter, der Bahnangestellten, deren Mann schon arbeitslos ist und bei den Neonazis eine zweifelhafte Heimat findet.
Ich bin geneigt, jeden Versuch eines Autors zu begrüßen,
der mir im Theater nicht Pseudo-Konflikte als wichtig aufschwatzen will,
sondern der sich den aktuellen gesellschaftlichen Widersprüchen stellt und
versucht, sie auf die Bühne zu bringen. David Greigs Zugriff ist
ambitioniert. Schmerzhaft werden einem beklagenswerte menschliche Schicksale
bewußt. Europa, dieser alte Kontinent, dessen Namen
Politiker so gern vollmundig mit dem Wort Einheit verknüpfen, scheint zerrissener
denn je. Der Autor weiß keine Ursachen, forscht auch gar nicht, konstatiert
lediglich fast apathisch. Das kann man ihm kaum vorwerfen. Auch in der Realität
sind brauchbare Lösungen nicht in Sicht.
Aber was schade ist: Greig vermag die von ihm als große
Metapher etablierte Katastrophe nicht wirklich tiefgründig zu gestalten: das
Zerbrechen der Menschen an einer ehemaligen Grenze. Ob das nun Einheimische
sind oder Ausländer. Zwar ist krude Realität gemeint, gewissermaßen erbarmungsloser
Naturalismus, doch zu offenbar ist das Konstrukt. Die Figuren hängen überdeutlich
an Fäden, an den Absichten ihres Schöpfers.
Fret, der noch amtierende Vorsteher (Udo Kroschwald), will
die unliebsamen Ausländer, den Sava (Reimar Joh. Baur) und seine Katia (Bettina
Kurth) zunächst vom Bahnhof verscheuchen. Wegen der Ordnung und so. Dann
freundet er sich mit dem Alten an, organisiert auf dessen Anraten sogar einen
Protest gegen die Schließung des Bahnhofs. Solche Kumpanei mit Ausländern wird
ihm von den Neonazis des Ortes übelgenommen, vor allem von Berlin (Thomas
Bading), dem Ehemann seiner Tochter. Adele (Cathlen Gawlich) wiederum
befreundet sich intim mit Katia, verschafft ihr über einen windigen Jung-Unternehmer
(Karl Kranzkowski) einen Ausweis. Der Haß eskaliert, die Neonazis zündeln. Endlich
ist von der Provinzstadt mal wieder in ganz Europa die Rede...
Billy, das junge Betriebsratsmitglied, fragt: Wem gehört
die Heimat? Adele, die immer nur die Züge sah, nie mitfahren konnte, hat ihre
verträumte Sehnsucht nach der Ferne, weiß die Heimat kaum zu schätzen. Katia
hingegen, aus ihrem Zuhause vertrieben in eine ungewisse Zukunft, trauert um
den Verlust der Heimat. Daß solche Momente des Stückes anrührend unsentimental
kommen, ist der Regie Katharina Seidels zu danken, die im Bühnenbild Sybille Schobels
bemüht war, den oft zäh fließenden konstruierten Dialogen szenische Glaubwürdigkeit
zu geben.
Neues
Deutschland, 4. März 1996