„Endspiel“ von Samuel Beckett am Schauspielhaus Bochum, Regie Jürgen Gosch /

„Heilige Kühe“ von Oliver Czeslik an der Schaubühne Berlin, Regie Klaus Metzger

 

 

 

 

Horror-Vision, die schon beinahe Realität ist

 

„Endspiel". Je heftiger und grausamer Ende des 20. Jahrhunderts reale Endspiele gespielt werden - ob als tödlicher nationalistischer Wahnsinn im ehemaligen Jugoslawien oder als ins Kriminelle abgleitender Aufstand der Unterdrückten in Los Angeles -, desto fader, abgegriffener werden des Iren Samuel Beckett (1906-1989) „End"-Sprüche aus dem Jahre 1957. „Ich liebe die alten Fragen. Ah, die alten Fragen, die alten Antworten, da geht nichts drüber!" Oder: „Ich liebe die Ordnung. Sie ist mein Traum. Eine Welt, in der alles still und starr wäre und jedes Ding seinen letzten Platz hätte, unterm letzten Staub." Die Wirklichkeit schickt sich an, Beckett zu übertrumpfen. Sie ist gnadenloser als alle seine Visionen.

Derlei Überlegung provoziert Jürgen Gösch mit seiner drastischen Inszenierung des „Endspiels" am Schauspielhaus Bochum, eingeladen zum 29. Theatertreffen Berlin. Eine spielerisch präzise Auseinandersetzung mit des seherischen Dichters bitter-sarkastischer Abstraktion. Eine Aufführung, die zwar - siehe oben – nicht mehr unter die Haut gehen kann, dennoch anregt. Man hat nämlich genügend Zeit, mit den Gedanken zwischen die Debatten zu kommen.

Die vier gerade noch vegetierenden Individuen Becketts in einer spartanischen Behausung irgendwo zwischen Meer und Erde bereiten sich das Sterben. Und fallen zuvor haßerfüllt verbal übereinander her. Hauptwaffe: Dies oder jenes gibt es nicht mehr. Keine Suppe, keinen Zwieback, keine Pillen. Nie mehr. Am beeindruckendsten die beiden Alten Nagg (Jürgen Sebert) und Nell (Hedi Kriegeskotte) als Rümpfe in Mülltonnen. Beide zitternd und brabbelnd zum Erbarmen. Sie gelegentlich mit jugendlich kreischender Stimme, er brummbärig, rauh und tief. Ihr Sohn Hamm (Peter Roggisch), auf den Rollstuhl angewiesen, noch ziemlich kräftig aber, kein Bild des Zerfalls, eher ein verhinderter stimmgewaltiger Regent mit Bootshaken und Stoffhund als Insignien grotesker Macht. Zumindest gegenüber dem renitenten Diener Clov (Wolfgang Michael), der zwar nur noch tappend zu Fuße ist, doch immerhin weglaufen könnte in die andere Hölle jenseits der Mauer (Bühnenbild Johannes Schütz). Was er androht, aber nicht tut. Clov, der gewitzte Nachfahr des Arlecchino aus der Commedia dell'arte, wird seine Gründe haben.

Beim Stückemarkt des Theatertreffens wurde Oliver Czesliks „Cravan" vorgestellt, derweil auf der Probebühne der Schaubühne seine „Heiligen Kühe" inszeniert wurden. Leider ist in der bundesdeutschen Realität nicht nur denkbar, sondern fast schon möglich, was der 1964 in Hamburg geborene, in München lebende Czeslik noch als Horror-Vision, als Theater-Spuk beschwört: Neonazis malträtieren einen linken Dokumentarfilmer, einen Juden, einen seiner marxistischen Überzeugung treu bleibenden Demokraten. Der kühne Text, „Heilige Kühe" genannt, ungebärdig, unausgegoren, mehr wilde Kolportage denn Gestalt der Literatur, der Agit-Prop-Tradition nahe, mit der Moderne hantierend, ist eine wahre Herausforderung für alle Theatermacher dieses Landes. Er legt nervend den Finger auf Deutschlands eigentliche, noch immer schwärende politische Wunde. Das Stück ist zu sehen in Kreuzberg in der Cuvry-Straße. Regisseur Klaus Metzger hat die Uraufführung besorgt, ein Ereignis mit Torturen für Zuschauer wie Spieler.

Das Publikum wird in der kleinen Spielzelle hell angestrahlt wie bei einem Verhör. Dies jeweils zum Szenenwechsel. Ansonsten wird es hautnah Zeuge, wie faschistische Skinheads, vertreten durch ihren Führer Gero von Wüfenstein (Alexander Schröder) und seine Komplizin Ulrike (Dörte Lyssewski), den Dokumentarfilmer Klementis (Rainer Philippi) in ihr Hauptquartier locken und dort einsperren. Um ihn zu foltern, weil sie Rache üben und ihn für einen nazistischen Volkgerichtshof in Dresden gefügig machen wollen. Sie schießen ihm in den Fuß, brechen ihm die Finger und die Arme, stoßen ihm die Augen aus. Und er schreit ihnen seine Überzeugung entgegen, trotz der Qual, trotz des großen Zusammenbruchs der Linken.

Die derzeit brisanteste Theateraufführung in Berlin. Freilich gar nicht ergötzend. Anstrengend, sehr anstrengend.

 

 

 

Neues Deutschland, 21. Mai 1992