Gott ist abgeschafft
Gott ist abgeschafft. Und der neue Mensch, ein binäres Wesen, kann nach Herzenslust vögeln, ohne Sorge haben zu müssen, ein Kind zu erzeugen. Der Nachwuchs wird per Cloning erledigt. Die spektakuläre Vision Michel Houllebecqs ins dritte Jahrtausend ist indessen mehr Nachspiel als Quintessenz seines im Detail faszinierend realistischen, insgesamt etwas redseligen Bestsellers. Vom makabren Schicksal zweier Halbbrüder aus der begüterten französischen Mittelschicht der „Nachachtundsechziger“ auf die ganze Menschheit kurzzuschließen, ist ohnehin recht eigenwillig, mehr Hybris des Schreibers als glaubwürdiger Zugriff auf Realität. Realo Frank Castorf lässt sich denn auch bei seiner Uraufführung „nach Texten von Michel Houellebecq“ weniger auf Visionäres ein, als vielmehr auf die Befindlichkeit des in der turbokapitalistischen Chaosgesellschaft lieb- und glücklos lebenden Erdenbürgers.
Der
zeitgenössische Mensch - bei Houellebecq krank durch
Individualisierung, die zu Vereinsamung führte
- ist bei Castorf nur noch eine
Nummer. Das heißt, bei ihm treten nicht die Halbbrüder Bruno und Michel auf, sondern
„1“ und „2“ (wobei, wenn man schon so verfährt, es richtiger gewesen wäre, die
zwei Seiten einer Existenz „1a“ und „1b“ zu benennen). Auch die anderen
Gestalten sind namenlos, womit Zuschauern, die den Roman nicht gelesen haben,
die rote Karte gezeigt wird.
Der
Hausherr der Volksbühne strebt keinerlei soziale Ortung an, sondern allgemein
das Desaster des individuellen Lebens. Er signalisiert seine Absicht auch mit
dem Bühnenbild (Ausstattung Bert Neumann), eingerichtet als ein exquisiter
Swinger-Club mit allen Raffinessen moderner Körperunterhaltung, gut gepolstert
alle Wände, und insofern auch ein bisschen mondäne Gummizelle. Ein Fit- und
Wellness-Raum für „enjoy“ jederzeit, was hier holländisch „snoezelen“ heißt,
„schnüffeln und dösen“ - aber letztlich, wie sich zeigt, ein Platz
ist für öde Quälerei und insofern durchaus repräsentativ für die
gesellschaftlichen Verhältnisse.
An
eben diesem illustren Ort blättert der Regisseur den Roman überraschend züchtig
auf wie ein Bilderbuch, den Autor zitierend, kommentierend und illustrierend,
aber nie simpel kopierend. Wobei er allerdings von seinem Dramaturgen Carl
Hegemann ohne erkennbaren Gewinn auch hin- und zurückblättern lässt. Beiden
Herren geht es offensichtlich um Zustände, nicht um Abfolgen. Solch
„Anti-Fabel-Theater“ mag für bewusst pluralistische Bühnenkunst stehen, wird allerdings
durch Castorfs Verfremdungs-Manie diskreditiert.
So
inflationär Houellebecq mit wissenschaftlichen Daten um sich wirft, so üppig
hantiert Castorf mit seinen Mitteln theatraler Verfremdung. Ich will nicht
behaupten, sie seien verbraucht, sie sind gelegentlich sogar neu. Etwa wenn
Massen von Seifenschaum aus dem Schnürboden stürzen, um „1“ und „2“ Gelegenheit
zu geben, als Halbwüchsige herumzutollen und erste Greifversuche nach einem
Mädchen zu machen. Aber sinnleere Bühnenvorgänge ergeben keinerlei ästhetische
Qualität, schon gar keine Aussage über die Sinnleere des Lebens. Viel zu oft
operiert der Regisseur mit rein formalen Verfremdungen, die zwar für Momente
zirzensisches Gaudi bedeuten, aber eigentlich nur Ballaststoffe sind. Ich
erwähne die tierisch fauchenden Schwangeren, das Sackhüpfen, die Ballerei mit
Styroporkugeln, die Verzerrung von Gesängen, die willkürlich benutzten
Sprech-Masken der Schauspieler, deren Mätzchen als kläffende Hunde. Zunehmend
zerbröselt, was vielversprechend anfängt.
Die
Stars Herbert Fritsch und Martin Wuttke, die als „1“ und „2“ agieren, eröffnen
den Abend als nervöse Moderatoren, referieren fulminant ironisch Aldous Huxleys
„Schöne neue Welt“ aus dem Jahre 1932, machen fröhlich mit dem „Fun“-Raum
bekannt, lümmeln sich auf riesigen Lederkissen und steigen unvermittelt ein in
die Erörterung ihrer unbrüderlichen Beziehungen sowie die sachkundig männliche
Begutachtung der Brüste von Brunos Frau. Das machen sie exzellent -
Fritsch den hochsensiblen Neurotiker akzentuierend, Wuttke den
depressiven Melancholiker. Noch scheint die Konzentration angesagt, die der
Programmzettel verspricht. Doch sobald die nächste Figur auftritt, verlieren
sich die Konturen, schon weil Nummer 7 nicht so ohne weiteres einzuordnen ist.
Über
drei Stunden begeben sich einigermaßen kurzweilige, leider nicht immer
schlüssige Aktionismen. Wirklich kommunikativ wird das Geschehen, sobald die
Schauspieler Vorgänge spielen können. Etwa wenn das frisch verliebte Paar,
Christiane (Astrid Meyerfeldt) und Bruno, von glücklicher Zweisamkeit träumt,
wenn Susanne Düllmann als Annabelle verbittert-vorwurfsvoll ihre Beziehungen zu
Männern ausplaudert oder wenn Joachim Tomaschewsky als Michels Chef über das
Leben meditiert. Wahrhaft grotesk-makaber ist die Sterbeszene der Mutter
(Susanne Düllmann), die von der Brüdern brutal hereingeschleift und dann
beschimpft und beweint wird. Sehr sinnfällig auch, sehr anrührend, wie die
querschnittgelähmte Christiane mit verzweifeltem Lachen ihre hoffnungslose Lage
quittiert, oder wie Michel in stoische Abstumpfung verfällt, sobald er von
Annabelles tödlicher Krebserkrankung erfährt.
Frank
Castorf will seine Inszenierung ganz offenkundig nicht pessimistisch enden
lassen. Geradezu demonstrativ wird „Du hast nichts Böses getan!“ herausgestellt,
als Bruno seine Lebensleistung bezweifelt. Und wenn Martin Wuttke ironisch die
neue Spezies kommentiert, die die Menschheit abgelöst hat, hangelt hinter ihm
ein seltsames Teletubbie-Wesen erfolglos die Kletterwand hoch, die vorher die
Menschen mühelos bewältigt haben. Dann wird’s gar sentimentalisch: Darstellerin
Brigitte Cuvelier führt rührselig einen Super-8-Film ihrer harmonisch
sorgenfreien Kindheit vor. Das hat man natürlich unbedingt wissen müssen.
Castorf
ist berühmt auch wegen seiner mehrfachen Schlüsse. Er ist nach wie vor der
innovationsreichste Berliner Regisseur. Noch ist er kein Altmeister; er
arbeitet unverdrossen mit dem Rüstzeug seines Sturm und Dranges. Aber es
scheint, als sortiere er um. Seiner Inszenierung fehlt der lakonische Zynismus
(schon ganz und gar übrigens der schier grenzenlose des Autors), sie will den
Menschen und zelebriert alles Spiel mit wehmütiger Melancholie. So ist denn der
Abend durchaus ein Ereignis.
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