„Einsame Menschen“ von Gerhart Hauptmann an der Volksbühne Berlin, Regie Leander Haußmann

 

 

 

 

Rebellion eines Kompromißlers

 

Sich in der korrupten bürger­lichen Gesellschaft von heute, für die Moral und Ethik exoti­sche Fremdworte sind, mit Gerhart Hauptmanns Lebens­auffassungen über Ehe und Ehebruch zu identifizieren, ist nicht mehr möglich. Leander Haußmann, Deutschlands erfolgreichster „Jung"-Regisseur, Chef des Bochumer Thea­ters, der an der Berliner Volksbühne das frühe Hauptmann-Drama „Einsame Menschen" einstudierte, hat dem Stück denn auch erst einmal alle pusselige Wirklichkeitstreue aus­getrieben. Und mit witzboldi­ger Ironie hat er dafür seine psychologisch deftigeren Na­turalismen platziert. Viele stim­mige charakteristische Details.

Das Landhaus des Natur­wissenschaftlers Dr. Johannes Vockerat liegt sehr wohl am Müggelsee zu Friedrichshagen bei Berlin. Eine wahre Idylle. Das Wohn- und Speisezimmer mit Blick auf Veranda, Garten und See (Bühne Stefan Mayer) jedoch nur armselig bürgerlich eingerichtet. Um den Tisch ein hölzerner Steg. Aber kein Boot. Immerhin - um das hier vorwegzunehmen - fährt der Hausherr bei Hauptmann schließlich und endlich hinaus auf den See, um sich umzu­bringen. Haußmanns Johan­nes Vockerat greift zur Pistole. Er erschießt sich. Er lebt aber auch irgendwie weiter. Der Re­gisseur fertigte einen pluralistischen Schluß, bei dem sich der Zuschauer aussuchen kann, welches Ende des Dra­mas ihm zusagt. Das ist wirk­lich nobel, obwohl es die An­gelegenheit über Gebühr aus­dehnt.

Der Fall nun ist der: Johan­nes Vockerat leidet unter der Affenliebe seiner Eltern. Irgendwie ist er schon gebrochen. Aus der Jugendzeit hat er einen Freund, den Freigeist und Maler Braun, der übers Malen redet, aber nichts zu­stande bringt. Bei diesem Braun taucht aus den russi­schen Ostseeprovinzen das Fräulein Anna Mahr auf, eine emanzipatorisch gesonnene Studentin, die er in Paris ken­nenlernte. Widerspruch: Nicht Braun, sondern Vockerat lädt die Fremde zu sich ins Land­haus! Liebe auf den ersten Blick. Spontane Zuneigung zu der Unabhängigen. Johannes, der der Religion Abtrünnige, tut's, obwohl er mit Käthe ver­heiratet ist, gerade sein Sohn Philipp getauft wurde und die tiefgläubigen Eltern noch zu Besuch sind. Das kann nicht gut gehen! Jedenfalls nicht um 1890. Was Hauptmann ernst abhandelte, bricht Haußmann komödiantisch. Eine deutsche Familie - „Hunderten und Tau­senden geht es nicht besser" - immer wieder am Rande einer Katastrophe.

Im Mittelpunkt Käthe. Das schafft Kathrin Angerer, indem sie dieses super-einfältige Ehe­frauchen mit solch entwaff­nender Unschuld offeriert, daß sie sich ätherisch abhebt vom Schlamassel. Ich will nicht sa­gen, daß mich der Angerer an­haltend zartsanfter Märchen­ton ganz und gar überzeugt hätte. Aber ihre Käthe ist so anmutig arglos, eigentlich gar nicht von dieser Welt, daß man ihr einfach gut sein muß. Was offenbar auch Maler Braun (Peter René Lüdicke) so emp­findet, denn nachdem klar ist, daß der Hausherr nur noch die intelligente Fremde im Kopf hat, holt er sich schon mal ei­nen innigen Kuß von Käthe. Womit sie einverstanden ist. Sieh an! Dies kleine Biest! Hurtig huscht sie hinaus mit dem Maler.

Mit bissigem Spott, aber auch allerhand Verständnis vermittelt Haußmann die Wohnstuben-Rebellion des Dr. Vockerat, der haben will, was ihm seine frommen Eltern verwehren, nämlich eine Freund­schaft mit dem Fräulein Anna aus Reval. Der Johannes des Bruno Cathomas macht mir freilich nicht deutlich, daß sein Beisammensein mit der schö­nen klugen Fremden ihn wirk­lich verändert, daß er auflebt, daß er zu einem gewissen Selbstbewußtsein findet. Die­ser Johannes schlurft auf fast immer gleiche sacht gebroche­ne Weise über die Bohlen sei­nes Wohnzimmers, ein ewig unentschlossener, mal gutmü­tiger, mal cholerisch lospol­ternder junger Mann. Wenn ihn Freund Braun einen Kom­promißler schimpft, wirft er den Wohnzimmer-Tisch um. So rabiat kann er denn doch sein. Die Attacken der Eltern läßt er über sich ergehen. Die Mutter (Susanne Düllmann) ei­ne gottvoll engstirnige Haus­frau, der Vater (Gerd Preusche) einfach ein beflissener, klein­karierter Bürger. Und zum Fräulein hält Hannes immer korrekte Distanz. Die Anna Mahr der Astrid Meyerfeldt hat indessen eine gewisse Sprödigkeit, die vertrauliche Nähe wahrscheinlich so schnell oh­nehin nicht aufkommen läßt.

Am Ende, wenn der Zu­schauer noch herumrätselt, ob der junge Herr Vockerat weiterhin lebend existiert, mon­tieren Bühnenarbeiter die gut­bürgerliche Behausung auseinander. Ob es dem Hannes und seiner Anna unter freiem deutschem Himmel ohne Obdach gut gehen wird wie zie­henden Möwen...?

 

 

Neues Deutschland, 9. / 10.März 1996