„Der Eindringling“ von Christoph Marthaler in der Volksbühne Berlin, Regie Christoph Marthaler

 

 

 

Naiver Jubel – närrische Einfalt

 

Geduld ist nötig. Wer sie mit- und aufbringt, wird sich an Christoph Marthalers neuester Volksbühnen-Arbeit ergötzen. Der Schwei­zer, Schöpfer der nun schon legendären Groteske „Murx den Europäer..." (1993 am gleichen Haus), bietet diesmal ein „Jubiläumskonzert der Gruppe Angst und Vertrauen" unter dem Titel „Der Ein­dringling", zu welcher originä­ren Kreation er den gleichna­migen Einakter von Maurice Maeterlinck und Karl Valentins „Orchesterprobe" sowie diver­ses Liedgut und Pointen noch und noch wundervoll collagierte.

Eine einzige Nörgelei sei vor­angeschickt: Die „Ankunft" der Spieler ist entschieden zu lang­stielig. Marthaler läßt nämlich vom Orchesterwart und Inspi­zienten (Robert Hunger-Bühler) den Boden des Orchester­grabens hochfahren, eine zeit­raubende Prozedur ohnehin, um erst einmal Jürg Kienberger ins Spiel zu bringen. Dieser glänzende Pianist, was er im Verlauf des Abends wieder be­weist, kämpft als Klavierstim­mer einen urkomisch-tücki­schen Kampf mit dem ver­stimmten Instrument. Nach­dem er eine halbe Bockwurst, eine Maus und offenbar über­flüssige Saiten entfernt hat, dämpft schließlich nur noch ein Teebeutel den klaren Klang. Während und nach die­ser „Nummer" werden die übrigen Spieler emporgekarrt, zunächst Herr Dornbierer (Klaus Mertens), dann Herr Klein (Ulrich Voß) und Die Neue (Olivia Grigolli), schließ­lich noch Fräulein Hammer (Susanne Düllmann), Fräulein Memmert (Heide Kipp), Franz Molchow (Jürgen Rothert) und Bohumil Zegelcke (Winfried Wagner). Und das dauert. Das dauert. Der Regisseur malträ­tiert ungewollt sein ansonsten wohlfeiles Markenzeichen - seine unübertreffliche Fähig­keit, durch geruhsames, mi­nutiöses Ausspielen alltägli­chen Handelns menschliche Schwächen offenzulegen. Wie­viel kauzige Melancholie, wie­viel himmlische Naivität. Köst­liche schauspielerische Minia­turen.

Denn nun geht es ja eigent­lich erst richtig los. Jetzt legen sich die Salon-Musiker in einer verbissen-heroischen Schlacht mit den metallenen Noten­ständern an. Die Dinger fallen immer wieder in sich zusam­men oder wachsen überdi­mensional in die Höhe. Und zwischenhinein purzeln die Dialoge. Fräulein Memmert meditiert trocken-treuherzig über die Seele im Dies- und im Jenseits. Herr Dornbierer offeriert aufdringlich seine Kenntnisse über die Heilkraft der Kräuter. Bohumil Zegelcke schwärmt vom Zaubern (Win­fried Wagner schließlich um­werfend in einer Heesters-Parodie). Die Neue produziert sich als Uralt-Dirigent mit schleckernder Säuferzunge (Liesl Karlstadt läßt grüßen). Fräu­lein Hammer versucht sich an Mozarts „Königin der Nacht", was Herr Klein hämisch imi­tiert. Welch überzeugendes Sammelsurium menschlicher Schrulligkeit! Auch der Orchesterwart mischt mit. Andäch­tig-bedächtig streut er gefühl­volle Verse bei. Offenbar ist er in Fräulein Hammer unglück­lich verliebt. Und immer mal wieder finden sich die Damen und Herren zu inbrünstigem „Jubiläums-Gesang" (80 Jahre Volksbühne), ob bei einem Part aus Verdis „Nabucco" oder beim frommen Lied „So nimm denn meine Hände...".

Das hat einen verqueren Tick. Naiver Jubel und närri­sche Einfalt - auch sie beglei­ten historische Ereignisse. Letztlich ist's von fast rührse­liger Tragikomik. Marthaler gibt's augenzwinkernd liebe­voll, läßt Sentimentalität nicht aufkommen. Da hat er den Symbolisten Maeterlinck (1862-1949) und den Volksko­miker Valentin (1882-1948) als geistige Vorreiter Samuel Becketts entdeckt und kostet es fei­erlich aus.

Das Bühnenportal ist von Anna Viebrock auf Stadtthea­ter-Format minimiert, so daß der Regisseur die Vorgänge konzentrierter als üblich und gleichsam als zeremonielles Perpetuum mobile ablaufen lassen kann. Ein irrer Kreislauf menschlicher Unzulänglich­keit. Bei Valentin noch eher als erlösender Spaß, bei Maeter­linck dann als sarkastische Lästerung. Eine Familie des Fin de Siècle sitzt mit dem blinden, greisen Großvater (Klaus Mertens) am Tisch der guten Stube und wartet zu mitternächtli­cher Stunde vergebens auf die Schwester. Der alte Herr hört noch recht gut, wird von seinen Angehörigen aber ständig und immer häßlicher hinters Licht geführt. Das ist von penetran­ter, erschütternder Boshaftigkeit und dennoch nichts ande­res als herbe Wahrheit über den Menschen.

Ein souveränes Ensemble setzt der Berliner Spielzeit ein erstes markantes Zeichen. Nicht mit vordergründig lär­mendem, sondern mit hinter­gründig leisem Theater. Es ist gut, daß an der Volksbühne ne­ben den prägenden drasti­schen Handschriften Castorfs, Kresniks und Kriegenburgs auch die verhaltene Marthalers immer einmal wieder zu sehen ist. Sehr herzlicher Beifall.

 

 

Neues Deutschland, 22. November 1994