„Egmont“ von Johann Wolfgang von Goethe am Deutschen Theater Berlin, Regie Friedo Solter

 

 

 

Ein Hohelied auf die Vernunft

 

Mit dieser Inszenierung des „Egmont" von Johann Wolfgang Goethe am Deutschen Theater besann sich der Regisseur Friede Solter auf seine Stärke: Sich selbst scheinbar zurückhaltend, aber sehr engagiert und durchaus auch das Werk auslegend, dringt Solter in die geistige Welt des Dichters ein. Und er formt dramatisches Ideengut über die tief und gründlich ausgeloteten Figuren-Gedanken, ja geradezu über deren sinnliche Körperlichkeit zu gestischer und szenischer Plastizität. Erfolgreich praktizierte er das schon 1966 bei Lessings „Nathan der Weise" oder 1979 bei Schillers „Wallenstein"-Trilogie. Dabei kam und kommt er nicht ganz ohne theatralische Gewolltheiten aus. Sein kritisches Verhältnis zu Egmont reizt zur Stellungnahme.

Goethe hatte mit dem Schicksal des patriotisch gesinnten Grafen Egmont in der frühbürgerlichen Revolution der Niederlande (1566 bis 1648), die verbunden war mit dem Befreiungskampf gegen die spanische Fremdherrschaft, einen brisanten dramatischen Stoff gefunden. Der schien ihm geeignet, seiner eigenen Epoche eine Zukunftsvision zu offerieren: die letztliche Sieghaftigkeit des Volkes im bürgerlich-nationalen Befreiungskampf.

Das Werk war ihm nicht so ohne weiteres von der Hand gegangen. 1775 hatte er zu schreiben begonnen. In Weimar arbeitete er über mehrere Jahre an dem Manuskript. In Rom schließlich gab er dem vierten Akt, der Auseinandersetzung zwischen Egmont und Alba, endgültig Gestalt. 1788 erschien das Trauerspiel in Leipzig.

Goethe hatte sich thematisch für die frühe Phase des revolutionären Aufbruchs entschieden. Er nahm das Geschehen — bekanntlich wurde Egmont bereits 1568 hingerichtet — als sozialen Hintergrund für seinen ganz und gar eigenen Dramenhelden. Er modifizierte Egmont, was Schiller ankreidete, gegenüber dem authentischen Vorbild, um „womöglich etwas Höheres und Besseres" zu geben als nur Historie. Der Dichter schuf sich ein Spielfeld für seine Ahnung gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten, für die noch unerforschte Dialektik zwischen dem unerbittlichen Gang der Geschichte und dem möglichen oder notwendigen Anteil des Individuums. „Ich scheine", schrieb er 1778 an Charlotte von Stein, „dem Ziele dramatischen Wesens immer näher zu kommen, da mich's nun immer näher angeht, wie die Großen mit den Menschen, und die Götter mit den Großen spielen."

Diese Überlegung findet sich wieder in Egmonts Erkenntnis aus dem 2. Aufzug: „Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als, mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken."

Eben dafür steht die Titelfigur. Egmont versucht, die Zügel festzuhalten, die Räder vom Sturze wegzulenken. Er glaubt — dies sein tragischer Irrtum — der Tyrannenherrschaft der Spanier allein mit Vernunft und Toleranz begegnen zu können. Vor seinem Tode muß er begreifen, daß nicht „die Ruhe der Provinzen" im Kalkül Philipps II. lag, sondern der Krieg. Gnadenlos und gezielt ermordet die Reaktion „vorsorglich" den möglichen Volksführer, den „Helden in spe" ... Dies nun ist ein Vorgehen, für das es erschütternde Beispiele aus jüngster Geschichte gibt.

Solter befragte in seiner Inszenierung historische Erfahrung auf ihre Aktualität. Seine Zuarbeiter waren ihm dabei unterschiedlich hilfreich. Christine Stromberg lieferte mit Sinn für das realistische Detail historisch stimmige Kostüme. Der Bühnenbildner Hans-Jürgen Nikulka hingegen verfremdete den Schauplatz Brüssel bis zur Unkenntlichkeit. Anleihen bei der bildenden Kunst aufnehmend, sie als Dekor einarbeitend, setzt er auf eine grellfarbige, den Schauspieler schier erschlagende Vordergründigkeit. Nicht trutzig-neureiche Bürgerhäuser baute er, sondern abstrakte Ziegelwände. Klärchens Stube tüftelte er schräg und winzig in den Raum. Da beginnt, scheint es, ein anderes Stück. Von Kafka vielleicht. Die Musik schließlich, nicht von Beethoven, auch nicht von Bredemeyer, sondern von Uwe Hilprecht, ist ohne wirklichen inneren geistigen Bezug zum Stück und wirkt eher als störende Geräuschkulisse.

Aber Solters Schauspieler behaupten sich. Ulrich Mühe gibt den Grafen Egmont. Mit strenger Besonnenheit begegnet dieser Prinz von Gaure den ihre Händel austragenden Bürgern. Da repräsentiert einer — nach der neuesten bürgerlichen Mode gekleidet — zwar aufgeklärte, so doch selbstbewußte feudale Obrigkeit. Gegenüber Oranien scheint er der Realpolitiker, doch dieser ist in der Gestaltung von Dieter Mann der tatsächlich Weiterblickende, der seine ahnungsvolle, grimme Sorge kaum zu unterdrücken vermag und spüren läßt.

Zu Klärchen schleicht sich Egmont im Mantel verhüllt. Ein Prinz besucht seine Geliebte aus niederem Stand, öffnet ihr seine Seele und bleibt der tändelnde Adlige. Klärchen (Ulrike Krumbiegel) empfindet das — kein vitales Naturkind, ein herbes, abgehärmtes Mädchen, das seinen rebellischen Aufruf an die Bürger nicht elementar herausschreit, sondern eher schon verzagend, bis zu sprachlicher Unverständlichkeit.

Die Auseinandersetzung Egmonts mit Oranien: Otto Mellies spielt einen Mann gebündelter Energie, einen im absolutistischen Dogma erstarrten Herzog, einen mit leidenschaftsloser Leidenschaft die Geschäfte seines Königs besorgenden General. Vergebens weist Egmont sein goldenes Vlies vor, den angesehenen weltlichen Ritterorden. Noch erteilt er dem Alba unerschrocken eine Lektion — widerstandslos dann ergibt er sich der Übermacht.

Im Gefängnis — dies eine der theatralischen Gewolltheiten — muß Egmont auf einem Tisch träumen und wie ein auf dem Rücken liegender hilfloser Käfer mit den Beinen strampeln. Die Erscheinung des Klärchens ist dann wieder sehr dezent, wieder stilsicher. Und das Erwachen ist das eines Mannes, dem im Bewußtwerden seiner Situation das Herz zu brechen droht. Aus der Ohnmacht schleifen ihn die Häscher aufs Schafott.

Damit versagt Friede Solter seinem Helden Goethes hymnischen Höhenflug. Vielleicht provoziert solche Deutung eher und nachhaltiger Nachdenklichkeit. Mit einem Ulrich Mühe jedenfalls hätte sich jedoch auch ein in der Stunde des Todes gereifter, ein Beispiel gebender Egmont spielen lassen. Zumindest wäre dann deutlich geworden, was Goethes Stückschluß nahelegt: Auch humanistische Toleranz muß gewappnet sein.

Wirkung und Reiz der Aufführung kommen von den äußerst präzise gearbeiteten Duo-Szenen. Stets ist da auch eine leicht bizarre Überhöhung. Bei den Bürger-Debatten allerdings begibt sich zu viel geducktes, aufgeregtes Hin und Her. Statt konkreter Geste dominierte hier die konventionelle Gebärde. Fred Düren gefällt als vorsichtig aufsässiger Schneider Jetter, Thomas Neumann als undemagogischer, klug und redlich, auch ein wenig fürwitzig argumentierender Schreiber Vansen. Christine Schorn sei noch genannt als deftig-treuherzige Mutter Klärchens sowie Michael Schweighöfer als Brackenburg.

 

 

Neues Deutschland, 26. März 1986