Deutsches Theater Berlin im Wandel

 

 

Erinnerung und Herausforderung

 

 

Stichwort: Deutsches Theater. Erinnerungen an bewegende, faszinierende Theaterabende, die ich hier seit 1955 erleben konnte. Große Namen. Ernst Busch und Eduard von Winterstein damals, Inge Keller und Dieter Mann heute. Um aus der Vielzahl wenigstens vier zu nennen.

 

An dieser Bühne führte die schöpferische Balance zwischen Tradition und Neuerung zu neuen ästhetischen Ufern. Einerseits stilles Anknüpfen bei Otto Brahm und Max Reinhardt, andererseits Öffnung gegenüber Brechts epischem Theater. Ein widersprüchlicher Prozess, zumal Stanislawski darüber nicht vergessen werden durfte.

 

Zeitgenössische wie klassische Stoffe wurden aus neuer historischer Sicht erkundet, geprägt vom Erleiden des Faschismus und des Krieges, stimuliert von einer aufgeschlossenen Hinwendung zu den neuen Realitäten im Lande. Künstler wie Wolfgang Langhoff und Wolfgang Heinz setzten Maßstäbe, bewahrten und bestätigten diese Bühne als eine Spielstätte von hohem nationalem Rang. Regisseure wie Benno Besson, Friedo Solter, Adolf Dresen, Alexander Lang, Heiner Müller und Thomas Langhoff nahmen die Impulse auf.

 

Auch international gerühmt wurde die ästhetische Authentizität, die Wahrhaftigkeit der hier kreierten Schauspielkunst, resultierend aus ihrem sozialen Engagement, ihrer historischen Konkretheit und ihrer ethischen Verwurzelung im Humanismus. Nicht primär um Tiefenbohrungen in der menschlichen Seele ging es, sondern um Aufschlüsse über die tragische oder komische Verstrickung des Menschen ins Dasein, in Krisen, Kriege, Revolutionen. „Der Einzelne nur Schaum auf der Welle“, diese klassische Maxime Georg Büchners über das Individuum im Strudel geschichtlicher Umbrüche, fand im Deutschen Theater extraordinäre theatrale Entsprechungen. Von Lessings „Nathan“ über Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ (1949 zu Gast) führt der Weg bekennender sozialer Realisten bis hin zu Heiner Müllers „Lohndrücker“.

 

Wenn rund zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der gesellschaftlichen Basis dieses Theaters wie seiner Bühnenkunst die Porträts der „toten Schauspieler“ aus den Wandelgängen des Hauses entfernt werden, kann man sich vorstellen, wie es an diesem Ort künftig um Tradition und Neuerung bestellt sein wird. Selbst die Erinnerung an seine großen Schauspieler wünscht man getilgt - und die allabendliche Herausforderung.

 

 

 

Neues Deutschland, 2. Juli 2001