„Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht am
Schauspielhaus Erfurt, Regie Dieter Steinke
Theatralische Rezeption überkommener Dramatik muß sich dem Zeitgeist stellen. Sie wandelt sich unter den Impulsen und Intentionen des Tages und kann theoretisch schwerlich vorweggenommen werden. Praktisches Vermögen der Gegenwart vor allem gibt Fingerzeige, legt Tendenzen bloß. Als Bertolt Brecht in einem Brief an ein New Yorker Arbeitertheater feststellte: „Die unversiegliche gute Laune der listigen Wlassowa, geschöpft aus der Zuversicht ihrer jungen Klasse, erregte glückliches Lachen auf den Bänken der Arbeiter", gewann er diese Erkenntnis aus damals aktuellen Absichten und Lösungen. Verallgemeinernd schrieb er schließlich im „Kleinen Organon", Vergnügung sei die nobelste Funktion, die er für Theater gefunden habe. Wie steht es heute damit? Teilen wir diese Auffassung in unserer Begegnung mit Brecht? Wir suchten Antwort im Theateralltag, in Berlin wie in Anklam, Erfurt und Prenzlau.
Über seine „Dreigroschenoper"
äußerte Brecht: „Der Charakter dieses Stückes ist zwiespältig, Belehrung und
Unterhaltung stehen auf einem Kriegsfuß miteinander". Dieter Steinke in
Erfurt entschied sich für Belehrung. Er operierte, als säßen nicht aufgeklärte
Sozialisten im Parkett, sondern aus Wohlleben und Geruhsamkeit
aufzuschreckende Besitzbürger. Er verwirklichte seine Intentionen über Peachum,
den Bettlerkönig, den er als bärbeißigen, räsonierenden rüstigen Herrn in
seinem Reich regieren und das Publikum mehr oder minder in seine aggressiven
Attacken einbeziehen läßt. Peachums verderbte Selbsterhaltungs-Philosophie
wandelt sich zu rebellischer Anklage des kapitalistischen Systems, und
plötzlich ertappt man sich dabei, einen prinzipienfesten Arbeiterführer zu assoziieren,
der seine getreuen Massen wider den Krönungszug zu Felde führte. Folgerichtig
geraten die sarkastischen Songs Peachums über das Menschsein unter
Verhältnissen, die nicht menschlich sind, mehr zu belehrender Agitation denn zu
ästhetischem Vergnügen.
Im Erfurter Programmheft wird H.Jherings
Kritik aus dem Jahre 1928 zitiert, indes nicht jene Passage, in der Jhering
beschreibt, was schon 1928 und heute doch wohl erst recht geliefert werden sollte: Unterhaltung. Jhering begriff die
„Dreigroschenoper" als handliches, unterhaltendes Gebrauchsstück.
„Amüsement, das hatten die mondänen Konversationsbühnen gepachtet. Mitreißende,
durchdringende Musik, die nahmen die Operettenbühnen für sich in Anspruch. Wir
anderen galten als Literaten oder Theoretiker... — obwohl wir nichts anderes
wollten, als eine Durchdringung des ganzen Theaterkomplexes, als eine Belebung
aller seiner Elemente: des Schauspiels und der Oper, der Posse und der
Operette... Sentimentaler Kitsch und Räuberromantik — alles dient nur einer
neuen, allen Möglichkeiten, allen Inhalten offenen Form." Gewiß hatte Brecht
Wesentlicheres im Visier, als Jhering
hier auffällt, nämlich Entlarvung bourgeoiser Gesellschaft. Aber für Heutige und
Hiesige sind aus der „Dreigroschenoper" wahrhaftig keine neuen
Informationen über spätbürgerliche Korruption zu beziehen. Der Zuschauer weiß einfach,
daß in der westlichen Welt heutzutage
ständig „reitende Boten des Königs" unterwegs sind, um Gründer von Banken
vor Ruin und Galgen zu bewahren. Er weiß, daß Kumpaneien zwischen Bankräubern und Staatsbeamten Dimensionen angenommen
haben, an denen gemessen die smarte
Freundschaft zwischen Macheath und Brown geradezu als das Werk von
Stümpern erscheinen muß. Kurz: Wir wissen heute mehr und unsere aktuellen
Assoziationen werden blockiert, wenn wir bärbeißig mit damaligem Wissen
agitiert werden, statt uns über damaliges Verhalten amüsieren zu dürfen. Nicht
Belebung aller Elemente des Theaters strebt Steinke an, sondern Pflege
didaktischer Züge. Ergebnis: Trotz solider Ensemblearbeit will sich rechtes
Amüsement im Zuschauerraum nicht herstellen. Beachtenswert die musikalischen Einstudierungen
unter Tilo Degenkolb, die den bitterernsten Anspruch der Inszenierung ein wenig
modifizieren. Im übrigen gibt Renate Hundertmark eine aparte Polly, fast ein
wenig zu fein und akkurat für die Peachum-Tochter. Wolf-Dietrich Köllner ist der edle Gauner Mackie Messer, geradlinig, ein
Gentleman, den saturierten, in den Adelsstand erhobenen Bankier ein wenig
vorwegnehmend. Günther Müller gibt den Tiger-Brown, Bruni Grabe Frau Peachum,
Ursula Birr die Spelunken-Jenny und Raymond Felsberg den Münz-Matthias.
Gespielt wird im milieugerechten Bühnenbild Jürgen Müllers.
(Fortsetzung unter „Dreigroschenoper“
in Anklam)
Theater der Zeit, 6/1975