„Der Mann von draußen“ von Dworetzki in
Halle, Nordhausen, Erfurt und Eisenach
Womit wollen wir unser Theater bewegen, wenn nicht mit einem solchen Stück? Wir fanden Theater in Halle, Nordhausen, Erfurt und Eisenach, die ihre Zuschauer unterhielten „mit der Weisheit, welche von der Lösung der Probleme kommt,'... mit all dem, was die Produzierenden ergötzt", mit „Geschehnissen zwischen Menschen" (Brecht). Dabei gab es Unterschiede in den künstlerischen Handschriften, im Vermögen und in den Möglichkeiten. Aber nicht die Unterschiede scheinen mir das Wesentliche, vielmehr das unabhängig voneinander und auf unterschiedlichen Wegen gefundene Gemeinsame: Auffällig zunächst der große Einsatz der Ensembles, mit dem sie sich das beglückende Erlebnis erspielen, gebraucht zu werden — dadurch, daß sie ihrer Gesellschaft den Spiegel vorhalten, vorurteilslos, klar, sauber, ohne Verzerrungen, also unmißverständlich. Erfreulich sodann, daß keines der Ensembles Ambitionen hegt, mit ästhetizistisch erstarrten Mitteln, mit Ironie oder Distanz seine besondere Klugheit gegenüber den Menschen herauszukehren, die es darstellt. Die Ensembles bekennen sich zu den sozialen Beziehungen und Konflikten, zu den Menschen, also nicht nur zu Tscheschkow, auch zu den Gramotkins, Plushins und Poluektows. Es ist zu reden über Theater der Identifikation.
Wenn Bertolt Brecht die Einfühlung
des Zuschauers in die Schicksale der Bühnenhelden als überholte Methoden attackierte
und Verfremdung als Kommunikationsmittel zwischen Bühne und Zuschauerraum
etablierte, damit der Zuschauer mit dem Urteil zwischen die Bühnengeschehnisse
zu kommen vermöge, so war dies ein historisch notwendiger Schritt und eine
Errungenschaft zugleich. Es war die Negation der überlieferten, kritiklosen
Einfühlung, die im spätbürgerlichen Theater geradezu zum Mittel hypnotischer
Verführung des Zuschauers geworden war. Unter unseren sozialistischen
gesellschaftlichen Bedingungen, aus denen qualitativ neue „Geschehnisse
zwischen Menschen" auf die Bühne gelangen, wird die Negation der Negation
notwendig, die Wiedergewinnung der Einfühlung auf reicherer, höherer Ebene.
Bewahrt werden muß das Verwenden und Erzeugen von Gedanken und Gefühlen, die
bei der Veränderung des jeweiligen historischen Feldes menschlicher Beziehungen
eine Rolle spielen. Überwunden werden muß die aufgekommene Manier, Figuren und Geschehnisse
mehr fremd als erkennbar zu zeigen und das Publikum verwundern statt wundern zu
machen. Solcherart Verfremdung versagt angesichts der sich zwischen
Zuschauerraum und Bühne herausbildenden neuen Beziehungen, die das erklärte
Bedürfnis der Zuschauer signalisieren, am Kampf ihrer Helden teilzuhaben, sich
mit ihnen zu identifizieren, sowohl kritisch urteilend als auch von Herzen
mitfühlend. Die Publikums-Gespräche belegen: Das Publikum fühlt und bangt mit
Tscheschkow, und es denkt mit ihm. Das wache, teils sehr kritische Urteil
gegenüber dem Verhalten des Tscheschkow ist gepaart mit Anteilnahme und
Sympathie für den mutigen Revolutionär und Kommunisten. Es ist schon
bemerkenswert, daß sich Zuschauer die Frage vorlegen, was sie wohl an
Tscheschkows Stelle tun würden und wie schwer es ihnen fallen würde, ihm ebenbürtig
zu sein. Die Konsequenz ist unübersehbar: Tscheschkow etwa ironisch-distanziert
als „Fachidioten" oder „modernen Technokraten" zu zeigen, ginge am
Wesen der Figur und des Stücks völlig vorbei. Diesem neuen Inhalt wird nur eine
Spielweise gerecht, die dem Zuschauer Identifikation ermöglicht.
Identifikation begriffen als dialektische Einheit von Mitfühlen und Werten.
Einen radikalen Versuch macht
Ekkehard Kiesewetter in Erfurt. Als würde er dem alten Instrumentarium
überhaupt nicht mehr trauen, läßt er sich von Jürgen Müller vier
Zuschauertribünen auf die Bühne bauen und in deren Mitte ein karges Spielpodest.
Das nervt zwar den einen oder anderen Besucher, der den bequemen Sessel nur
ungern entbehrt. Aber nicht darum geht es Kiesewetter, sondern um hautnahes Dransein
am Geschehen. Diese Lösung zwingt ihn und seine Darsteller, sehr genau zu
arbeiten. Sie müssen viel von Stanislawskis psychologischem Theater in die Arbeit
einbringen und nicht weniger von Brechts sozialem Gestus. Sie müssen konkrete,
genaue Partnerbeziehungen aufbauen und durchhalten, sie müssen szenisch beredt
sein. Konzentration auf Schauspielkunst stellt sich her. Und es gelingen
schöne Entdeckungen. Nicht nur Tscheschkows (Hanns-Michael Schmidt)
arbeitsbesessene, energische Aktionen in den Neresher Werken werden schaubar,
auch die Liebe zwischen ihm und der Stschegoljowa (Doris Dubiel). Tscheschkows
tiefe, ehrliche Liebe erzählt seine kaum sichtbar werdende scheue Verlegenheit
gegenüber der Stschegoljowa auf dem Fest, bevor sie sich entdeckt haben. Dieser
Tscheschkow ist sensibel, aber er hat starke Nerven. Er nimmt sich besonnen
Zeit, die hereinplatzenden Kommandeure wieder hinauszuschicken. Politisch
empfindsam und tief getroffen setzt er deutlich sein Bekenntnis: Ich bin
Kommunist! Da er als ein gefühlsreicher, feinsinnigen menschlichen Regungen
zugänglicher junger Mann gezeigt wird, gewinnt er selbst solche Zuschauer für
seine Sache, die den spezifischen Problemen eines Werkleiters nicht a priori
gewogen sind. Diese Chance haben nicht alle Bühnen konsequent wahrgenommen.
Theater der Identifikation bietet die Möglichkeit, Tscheschkow als den
beharrlich und zu Recht unduldsam fordernden Fachmann der technischen
Revolution und als einen heißspornigen jungen Menschen zu entdecken, der eben
nicht das „Ungeheuer" im Betrieb sein möchte, und nicht zuletzt ein
liebender Mann ist. Ein Mann, den nach aufreibenden Kämpfen zwei Schläge an den
Rand des physischen Zusammenbruchs bringen: das uneinsichtige Wegrennen seiner
Mitarbeiter aus der Dienstbesprechung und die Absage der Stschegoljowa in dem
Moment, da er sie am dringendsten braucht. Kiesewetter will Faszination, will
theatralische Wirkung, mit der er den wesentlichen Inhalt transportieren
möchte. Er läßt seine Darsteller zügig Szene für Szene agieren, verzichtet auf
die Pause und auf Zwischentexte. Der Zuschauer kann gerade Atem holen,
ursprüngliche Spannung kommt auf. Leider fällt sie ab durch den Mißgriff, die
Wohnheim-Szene minutenlang in völlige Dunkelheit zu hüllen. Auch wird eine
mögliche Steigerung gegen Ende vergeben, wenn Tscheschkow zwar erbittert um
seine Kollegen ringt, aber Managarows Befürchtung „Mir gefällt ihr Zustand
nicht" überspielt und Tscheschkow nicht an den Rand des völligen
physischen Zusammenbruchs getrieben wird. Dadurch gerät das Auftreten
Krjukows, des Parteisekretärs aus dem Stadtkomitee, zu dem einer „grauen Eminenz",
wird vom Zuschauer kaum als innere Notwendigkeit, Eingreifen der Partei zum
richtigen Zeitpunkt, eher als äußerliche deus ex machina-Lösung empfunden.
Das Erscheinen Krjukows ist ohnehin eine der schwierigen künstlerischen Aufgaben, die das Stück stellt. Wenn versachlichend das gesellschaftliche Anliegen Tscheschkows inszeniert, die verbale Auseinandersetzung rationell gegeben, aber das ihr zugrundeliegende konkrete Handeln der Figuren wenig gestisch erschlossen wird, dann gerät diese aktuelle Chronik unversehens in die Nähe didaktischen Agit-Theaters. Und das Auftreten Krjukows braucht dann keine sozial und psychologisch begründeten Zusammenhänge, sondern lediglich ein obwaltendes übergeordnetes Prinzip. In Nordhausen wird eben dies sinnfällig. Dort sitzt der spätere Krjukow von Anbeginn auf dem Rang, liest zunächst die Zwischentexte von oben herab und greift dann sitzend und lesend ins Geschehen ein. Und die Figuren auf der Bühne heben andächtig die Köpfe, treten erwartungsvoll näher und lauschen nach oben. So kommt ein Vorgang in das Stück, der darin eigentlich nicht zu entdecken ist.
Regisseur K. F. Zimmermann benutzt
ein Spielpodest auf der Bühne, das von Scheinwerfern umgeben ist. Diese karge, assoziationshemmende
Ausstattung Carlheinz Städters mag mit dazu geführt haben, vor allem den
hartnäckig kämpfenden Tscheschkow (Peter Dreessen) herauszuarbeiten. Seine
Beziehungen zur Stschegoljowa (Gisela Maedel) erscheinen mehr als beiläufiges
Fremdgehen, denn als ernsthafte Liebe. Dieser Tscheschkow geht völlig in
seiner Arbeit auf, sein unermüdliches Ringen, seine Unbedingtheit und Strenge
prägen sich ein. Die untheatralisch gehaltene, vom Wort lebende Inszenierung
findet beim Anrechts-Publikum nur geringen Widerhall. Aber in Betrieben ist
ihre Resonanz erheblich, erzielt sie Wirkung in ihrer sachlichen Kargheit, kann
sie nachvollzogen werden. Und das ist ein Vorzug: das einfache Spielpodest läßt
sich überall aufschlagen!
Auch Eisenach benutzt ein auf der
Bühne installiertes Podest. Doch Gregor Pabst hängt ein originell gearbeitetes,
schönes Relief von Leningrad und den Neresher Werken dahinter, poetische
Absichten signalisierend. Und Regisseur Dieter Roth a.G. sucht eine
Spielweise, die das vielfältige Beziehungsgeflecht der Figuren schaubar zu
machen trachtet. Zur Einführung läßt er alle Figuren vom Spielleiter, dem
späteren Krjukow, vorstellen, damit Vertrautheit der Zuschauer mit den
Gestalten herstellend. Das komplizierte Geschehen kann wissender verfolgt
werden. Nicht sachliche Kühle, nüchterner Report, sondern einfache
Anschaulichkeit, diskrete Bildhaftigkeit kennzeichnen diese Inszenierung. Empfindlich
stört der Einfall, Tscheschkow (Uwe Schmidt a. G.) am Ende selbstzufrieden und
banal erklären zu lassen: „Nun läuft der Laden!" Die den Konflikt in
gewissem Sinne harmonisch austragende Inszenierung scheint einen ebensolchen
Schluß zu heischen. Gewiß muß jedes Ensemble an die Seh- und Erlebnisgewohnheiten
seines Publikums anknüpfen, aber zum Profil, das diese Hauptfigur im Verlauf
ihrer Auseinandersetzungen gewinnt, sollte man sich bis zum Schluß bekennen.
Im übrigen hat die Inszenierung viele schöne Details. Tscheschkow wahrt trotz
aller aufzubietenden Härte und Energie eine nervlich gesunde Ausgewogenheit,
kontert Schroffheit mit Umgänglichkeit. Seine Liebe zur Stschegoljowa (Renate
Bahn) wird als ernst spürbar, bleibt aber relativ einschichtig.
Eine frappierende Lösung bietet Horst
Ruprecht in Halle, auf den ersten Blick vielleicht konventionell anmutend, in Wirklichkeit
Herkömmliches geschickt nutzend, ganz und gar darauf gerichtet, mittels
theatralischer Faszination an möglichst viele Zuschauer heranzukommen. Der
Tendenz der Berliner Fassung, das gesellschaftliche Anliegen Tscheschkows
rationell nach vorn zu holen und seine privaten Konflikte — Ehefrau, Geliebte —
zurückzudrängen, wird entgegengewirkt mit reicher Anschaulichkeit der
Vorgänge, mit kluger dramaturgischer Pointierung des Beginns. Henning Schallers
Ausstattung ermöglicht, den ganzen Bühnenraum ins Spiel zu bringen und
assoziiert Weite und Größe der Neresher Werke wie auch des Gegenstands.
Tscheschkow (Klaus-Rudolf Weber) und Poluektow
(Horst Lampe) betreten die Stahlwerke durch die Tür des eisernen Vorhangs,
krachend schlägt sie zu. Der Vorhang hebt sich, gleißendes Licht blendet aus
dem Hintergrund, lärmend fährt ein Podest aus der Drehbühne, wird herumgeschwenkt:
die erhobene Residenz der „mächtigen Männer". Plushin thront mit dem
Rücken zum Zuschauer, leitet zunächst recht anonym, muß sich dem Publikum en
face stellen, wenn aus dessen Mitte heraus Krjukow eingreift. Viele
überzeugende Einfalle, Einfalle vor allem, die Schauspielkunst stimulieren und
szenisch beredt Geschehnisse zwischen Menschen erhellen. Da wird das Betriebsfest
gefeiert, und aus dem scheinbar zwanglosen Hin und Her kristallisieren sich
wesentliche Vorgänge heraus, entwickelt sich der Konflikt. Das spießige Hecheln
über Tscheschkow geschieht, wird aber nicht zum vorherrschenden Eindruck,
vielmehr das Zueinanderfinden des Heißsporns Tscheschkow und der feinnervigen
Stschegoljowa (Marie-Anne Fliegel) in verhaltener, herber Liebe. Persönliche Interessen
und Beziehungen weiten sich zu gesellschaftlichen und umgekehrt. Etwa, wenn
Tscheschkow und Managarow sich um die Stschegoljowa bemühen, da ist Konkurrenz
zwischen Männern, aber nicht Eifersucht, Managarow (Siegfried Voß) steht zu
Tscheschkow. Die Regie betont einige Fabelpunkte geradezu verfremdend, aber
legitim und überlegt. Laut bricht aus Tscheschkow heraus, dass er den Plan
nicht erfüllen will. Die lange Pause nach dem Ausbruch gibt seiner Erklärung
Gewicht, provoziert Nachdenken. Groß wird sodann die Peinlichkeit gezeigt, die
die Eingesessenen befällt, als Tscheschkow von Fälschung spricht.
Unüberhörbar ist schließlich, wie der zusammenbrechende, fast wirr eifernde
Tscheschkow in der Dienstbesprechung für unbedingte Wahrheit und Ehrlichkeit
in den Arbeitsbeziehungen plädiert. Das wird geradezu zur Botschaft, die der
zermürbte Tscheschkow mit letzter Kraft ins Publikum schleudert. Wenn jetzt
von dorther in Gestalt Krjukows die Partei eingreift, von der Woge der
Sympathie für Tscheschkow ebenso getragen wie von der gedanklichen
Übereinstimmung mit dessen Argumenten, wird das zum faszinierenden Höhepunkt
der Aufführung.
Dworezkis Stück — das kann unumwunden
resümiert werden — hilft unserer Theaterkunst, neue Wirklichkeiten zu
entdecken, neue Wertvorstellungen zu prägen und in neuer Kommunikation zwischen
Bühne und Zuschauerraum das Publikum geistig und gefühlsmäßig in das Ausfechten
und Auskämpfen von Widersprüchen und Konflikten einzubeziehen. Dem Gegenstand
angemessen und der Entwicklung unserer Theaterkunst dienlich sind dabei
Kühnheit und Entdeckerdrang beim Ausprobieren faszinierender theatralischer
Lösungen voller Bildhaftigkeit und Anschaulichkeit wie von reicher
schauspielerischer und szenischer Beredsamkeit.
Theater der Zeit, 3/1975