„Der Drache“ von Jewgeni Schwarz am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Tom Kühnel/Robert Schuster

 

 

 

Ein grotesk unirdisches Wesen

 

An die sechshundert Vorstellungen erlebte Benno Bessons grandiose Inszenierung der Märchenkomödie »Der Drache« von Jewgeni Schwarz; ab 1965 am Deutschen Theater Berlin mit Eberhard Esche (Drache) und Rolf Ludwig (Lanzelot) in den Hauptrollen. 1970 folgte an der Staatsoper Unter den Linden die Oper »Lanzelot« von Paul Dessau, Libretto Heiner Müller. Drei Dezennien ist es her, daß Berliner Theater zwar in parabolischer Verfremdung, letztlich jedoch unverhohlen dazu aufforderten, über Bürger einer Stadt nachzudenken, die sich an die tyrannische Herrschaft eines Drachens gewöhnt haben. Am Berliner Maxim Gorki Theater hielt man die Zeit für gekommen, auszuforschen, wie viel Vitalität dem »Märchen« noch innewohnt. Obwohl die Aufführung in schlicht-treuherzigen Versen (Soeren Voima) und holzschnittig-naivem Spiel (Regie Tom Kühnel/Robert Schuster)  bieder-betulich daherkommt, fand die Premiere herzlichen Beifall.

Jewgeni Schwarz hatte 1943, als er das Stück in Dushanbe schrieb, zwei Jahre Blockade Leningrads durch die deutschen Okkupanten überlebt. Sehr verständlich, daß ihn bewegte, wie sich das deutsche Volk von den Faschisten beherrschen und in den Krieg hatte manipulieren lassen. Er antwortete mit seiner Märchenkomödie »Der Drache«. Darin stilisierte er den verhängnisvollen sozialen Dualismus zwischen teils offener, teils verdeckter Gewalt eines Herrschenden und anpasserischer Unterwürfigkeit des Volkes. Den Konflikt machte er schaubar vor allem mittels dreier Köpfe des Drachens, die ihre Macht jeweils genießen, indem sie gnadenlos als Mensch operieren.

Die Regisseure Kühnel und Schuster allerdings lassen den Drachen nicht in Menschengestalt auftreten, sondern nur als ein Fabelwesen, und das als Puppe. Damit wird das Untier - selbst wenn zwei seiner Köpfe menschliche Züge haben - aus sozialen Beziehungen herausgenommen. Ich empfinde das als Verlust. Der Einsatz von Puppen verführte zu Beschaulichkeit.

Hier gehört angemerkt, daß das Regie-Team vor zwei Jahren in der Studiobühne des Gorki Theaters mit »Weihnachten bei Ivanows« von Vvedenskij sehr erfolgreich war. Die ästhetische Faszination damals ergab sich aus dem komischen Zusammenspiel von Mensch und Puppe auf engstem Raum. Die skurrilen Vorgänge waren getrimmt auf einen wunderlichen, grotesk-naiven Stil. Das sollte wiederholt werden, ließ sich aber - wie sich zeigte - auf großer Bühne so ohne weiteres nicht machen. Schon weil Vvedenskij bei einer Ehetragödie grimmiger Surrealist ist, Schwarz aber bei einer Staatsaktion bekennender Realist. Jetzt wird verharmlost, was Schärfe brauchte.

Die Idee freilich, Schauspieler zusammen mit Puppen, also auch Puppenspielern, agieren zu lassen, ist gut und scheint mir nicht verbraucht. Wenn beispielsweise Karlemann (Dieter Wien), Archivar des Drachen, von der friedfertigen Stadt schwärmt, sich aber über ihm auf einer Spielleiste (die Häuser und Gasse zeigt) just einige Städter/Puppen wacker prügeln, dann ist das so deftig und so witzig kaum besser vorzuführen. Auch hat das Spiel des Puppen-Drachens seine Schönheiten. Erst starrt das brüllende Monster mit riesigen glühenden Augen zu beiden Fenstern der Stube herein, dann tritt eine schlanke Eidechse auf, deren tierische Visage sich live in ein weißhaariges Antlitz zu wandeln vermag. Das grotesk unirdische Wesen kann sämtliche Gliedmaßen nach Belieben dehnen, auch zwischen den dürren Schenkeln weiß es kraftmeierisch aufzutrumpfen. Christian Weise, der Spieler, versteht, wahrhaft virtuos mit dieser Puppe umzugehen. Freilich absorbiert seine technische Meisterschaft viel Aufmerksamkeit. Die dritte Drachen-Variante dann, vorgegeben ist ein giftender Greis, ist hier ein keck kraftstrotziger, possierlicher Gnom, von dem eher Lächerlichkeit ausgeht.

Die hinterhältige Gefährlichkeit des Drachens stellt sich erst über die Schauspieler her. Vor allem wie sie die opportunistische Flexibilität zeigen, mit der ihre Figuren mit der nun einmal herrschenden Macht auszukommen versuchen. Der Müller (Eckhart Strehle), der Händler (Dietmar Obst), der Gärtner (Tim Hoffmann) und die Weiber Lotte (Monika Lennartz), Trude (Ursula Werner) und Lise (Monika Hetterle) lavieren sich geschickt, gelegentlich durchaus zufrieden, durch die Fährnisse im Zeichen des Drachens. Sie wollen gar nicht einmal so unbedingt befreit sein von lange gewohnten Segnungen und Drangsalen. Das ist schon von abgründiger Komik.

Hansjürgen Hürrig führt äußerst variabel einen windig-wendigen Bürgermeister vor, der seinen gewieften Sohn Heinrich (Wolfgang Hosfeld) zum Sekretär des Drachens zu machen wußte. Vor allem aber versteht es dieser Herr, in - möchte man sprechen - »blockflötiger« Eintracht zu leben, solange es einträglich ist, und sich als Drachentöter auszugeben und machtbewußt an die Spitze eines neuen Regimes zu stellen, sobald sich Gelegenheit bietet.

Das Paar der Liebenden: Lanzelot, die Blume der Ritter, der Retter von Stadt und Leuten, ausgestattet mit leicht lädiertem Kettenhemd, ist bei dem sublimen Ironiker Ulrich Anschütz wirklich der ideale, herrlich tapfere Ritter, wie er in sämtlichen Märchenbüchern rühmend erwähnt wird. Und Elsa, des Karlemann wunderschöne Tochter, die dem Drachen geopfert werden soll, ist bei Susanne Böwe von züchtig-naiver Anmut. Die zwei holen sich Szenenbeifall. Auch dem Kater (Puppenspielerin Suse Wächter), einer Diva mit Freiheitsdrang, wird gern applaudiert. Im märchenbunten Bühnenbild Jan Pappelbaums und mit konventioneller Musik Christine Schulz-Wittans ein Spiel volkstümlich-umgänglicher Neoromantik, wie es womöglich zur Zeit opportun ist.

 

 

 

Neues Deutschland, 26. Februar 1997