Welttheatertag 1996

 

 

 

 

Durst nach Dialog

 

Durst nach Dialog - meint der syrische Dramatiker Saadalla Wannous in seiner internationalen Botschaft zum Welttheatertag - ist ein Bedürfnis der Menschen, das das Theater befriedigen kann. Was er nicht erwähnt: Andere Medien sind dem Theater längst zuvorgekom­men. Allwöchentlich, frei­tags beispielsweise, haschen wenigstens ein halbes Dut­zend Fernsehsender mit Talk-Runden nach Ein­schaltquoten. Ziel dieser Plauderstunden ist nicht, ein Lebensproblem fundiert zu beleuchten, sondern amü­sant darum herum zu reden. So in etwa nach der Devise: Das ganze Leben - was auch immer uns da in die Quere kommt, ob Arbeitslosigkeit, Politikerlüge oder Rinder­wahnsinn - ist eigentlich ein Spielspaß. Wobei laszive Blödelei offenbar als Gipfel der Dialogkunst gehandelt wird. Tatsächlich: Der Durst nach Dialog ist als ein Be­dürfnis der Bürger erkannt. Und er wird vom Fernsehen gestillt. Was bleibt dem Theater?

Die Schauspiel-Bühne, be­reits gefährlich an den Rand der Gesellschaft gedrängt, scheint die Bedrohung hin­zunehmen. Sie ist keine ideo­logische Institution mehr, mit der man rechnen muß. Sie führt kaum einen auffäl­ligen Kampf um Kommuni­kation, etwa durch hartnäckige Versuche, sich einzu­mischen und sich als kom­petenter Dialogpartner zu behaupten. Dabei ist klar: Sie hat nur noch eine Chan­ce, wenn sie Alternativen bietet, wenn sie offeriert, was weder subventioniertes noch privates Fernsehen zu leisten willens und in der La­ge sind.

Flucht in die Sprachlosigkeit jedoch, in das Ausstellen ästhetisierender Bilder mit Figuranten, oder seelenloses Brüll- und Marschier-Theater können mit Crime und Sex im Fernsehen nicht kon­kurrieren. Auch sich verzet­telnde Episodierung statt packender Fabelerzählung, zusammenhangloses Be­haupten statt ursächliches Konfliktaustragen machen das Theater kaum attraktiv. Und: Ich fürchte, die Bühnen täuschen sich, wenn sie hof­fen, mit Dauerbrennern des internationalen Repertoires Zuschauer zu locken. Selbst wenn dem Regisseur eine neue Sicht auf das ausge­diente Stück gelingt, sind meist nur Insider angespro­chen. Und die füllen nir­gends die Säle.

Wenn der Durst nach Dia­log im Theater besser gestillt werden soll als sonstwo in der Gesellschaft, müßten die Bühnen ihre Spielplanpolitik ändern. Und zwar so nach­haltig, daß sich landauf land­ab herumspricht: Im Thea­ter, diesem uralten Forum der Demokratie, werden wie einst aktuelle Lebensfragen der Bürger offen aufgewor­fen und verhandelt. Das heißt, Aufsehen erregende, in akute gesellschaftliche Prozesse eingreifende zeitgenössische Dramatik sollte im Spielplan überwiegen.

Illusion das. Reiner Idea­lismus. Ich weiß.

In dieser Gesellschaft lebt und stirbt jeder für sich al­lein. Auch der Dramatiker. Der Intendant. Der Regis­seur. Der Spieler. Und vor­erst ist keine wirklich mobi­lisierende soziale Strömung, gar politische Kraft in Sicht, deren utopische, vielleicht revolutionierende Ideen man attackieren oder vertreten könnte. „Was heute ist, kann nicht das Ende aller Zeiten sein", beschwört Wannous eine Hoffnung. Doch das Theater, finanziell abhängig, ist den Zwängen ausgelie­fert. Soll es, ohne eine soziale Bewegung im Rücken, wie Don Quichotte gegen die Ver­hältnisse argumentieren? Es ist drauf und dran, scheint es, den Reigen hofnärrisch konform mitzutanzen.

Und dennoch: Gerade in Zeiten, in denen sich die so­zialen Widersprüche zuspit­zen, nur vage Hoffnung der Wanderstab ist und die Weg­strecke abenteuerlich, in sol­chen Zeiten sollte das Thea­ter sich auch als Pfadfinder verstehen. Es muß schreien, nicht palavern, mahnen, nicht schmeicheln, enthül­len, nicht verschleiern, we­nigstens fragen, nicht unbedingt antworten...

 

 

Neues Deutschland, 27. März 1996