„Clavigo“ von Goethe am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie
Stefan Otteni
Trauerspiel als Seifenoper
„Quark“, wie ihn andere auch schreiben, nannte Goethes Darmstädter Freund Merck dessen Trauerspiel »Clavigo«, das der 25jährige 1774 in einer Woche von Beaumarchais' »Fragment meiner spanischen Reise« abgekupfert hatte. Nicht ohne nach Art gängiger Seelenschocker seiner Zeit ein Begräbnis und einen Zweikampf hinzugefügt zu haben, was der erfahrene Stückeschreiber Beaumarchais als »Hohlköpfigkeit« empfand. Immerhin war das entstandene Werk ein Beispiel für unerfreuliche Wankelmütigkeit eines Liebenden, dem seine Karriere bei Hofe letztendlich wichtiger ist als das Seelenheil seiner Geliebten.
Jetzt hat sich Stefan Otteni am Berliner Maxim Gorki Theater versucht.
In naturalistischer Ausführlichkeit modelte der bisher in der sogenannten Off-Szene
tätige 31jährige Regisseur das Werk um zu einem spanisch-französischen Familienzwist
des Jahres 1998. Clavigo, der Archivarius des Königs - hier ein kleiner Schreiberling
mit Computer, Liege, Box-Sandsack, Küchenecke und ausländischer Bediensteten in
einem Raum (Bühne Franz Lehr). Marie Beaumarchais, die verschmähte Verlobte des
Clavigo - hier ein armes Hascherl aus dem Volke, das sein Krankenbett im
Lagerraum der Wein-Handlung aufgeschlagen hat, die ihre Schwester Sophie mit
ihrem Mann betreibt.
Die aus Goethes poetischer Welt in ein Milieu-Stück des
20. Jahrhunderts verpflanzten Figuren entfalten ihr Eigenleben, und der
Regisseur verliert sich in stilistischer Unentschiedenheit immer wieder in
nebensächliche Naturalismen. Das hält auf, lenkt ab. Es schlägt um in Lächerlichkeit,
wenn Buenco seine Kenntnisse in moderner Wiederbelebung zunächst an der ohnmächtigen, dann an der toten Marie vorführt. Und es
ist unerträglich geschmacklos, wenn Beaumarchais am Ende Clavigo minutenlang viehisch
umbringt.
Das eigentliche Dilemma der Inszenierung
aber ist: Da Otteni den Text in naturales Spiel auflöst, fehlt den Schauspielern
Haltung und aller Atem für Goethes Sprache. Sie bleibt alltäglich, flach,
unplastisch, sinnenleer. Statt gedanklicher Präzision geistiges Ungefähr, bis
hin zu läppischer Tändelei hinter und vor dem Vorhang. Carlos (Thomas Schmidt) gar
als Pausen-Clown. Zwei Szenen lassen aufmerken. Wenn Beaumarchais mit Buenco
bei Clavigo erscheint, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen, macht man sich mit
höfischem Zeremoniell bekannt, brilliert man mit intriganter Grandezza und
gezirkeltem Tanzmeister-Stil. Und im Hintergrund putzt die Bedienstete just das
lange Küchenmesser. Plötzlich ist da eine Ahnung, wie diesem
Trauerspiel zopfiger Bauart theatral-ironisch hätte beigekommen werden können.
Was freilich Handwerk erfordert hätte, die Fähigkeit, subtil historisch konkret
zu sein und unter höfischer Etikette wechselnd Heuchelei und ehrliche
Leidenschaft sichtbar zu machen. Das wäre ergötzend gewesen. Das hätte
vieldimensionale Schauspielkunst leisten können.
Otteni läßt eindimensional direkt spielen wie in einer
TV-Seifenoper. Wobei er immerhin um glaubwürdige, beredte Vorgänge bemüht ist.
Auffällig mir vor allem in der Szene, in der Clavigo (Frank Seppeler) noch
einmal Maries (Franca Kastein) Vertrauen zurückgewinnt. Sie versteckt sich
verzweifelt und unschlüssig hinter ihrer Decke, dann hinter dem Vorhang. Er,
völlig aufgelöst, ringt um jedes Argument, rettet sich in einen wilden Tanz,
versucht, sich ihr zu nähern. Und die liebe Verwandtschaft steht stumm dabei.
So mag sich das abspielen in Familien, in denen wie in alten Zeiten Leidenschaft
über Vernunft herrscht, man sich gelegentlich rundum auslebt, ein wenig umbringt
und wieder versöhnt.
Neues
Deutschland, 14. Januar 1998