„Wolokolamsker Chaussee“, Teile IV und V, von Heiner Müller am Hans-Otto-Theater Potsdam, Regie Bernd Weißig

 

 

 

Rituale, die sich kaum entschlüsseln

 

 

Im Spielplan des Hans-Otto-Theaters Potsdam sind seit geraumer Zeit die Spielmodelle „Wolokolamsker Chaussee, Teil I bis III" von Heiner Müller, wovon Teil II und III in diesem Haus zur Uraufführung kamen. Jetzt inszenierten Bernd Weißig und Christian Steyer als Gäste die Teile IV und V, letzteren als DDR-Erstaufführung. Der vorherrschende Eindruck diesmal: pointierte Regie, aber zunehmendes Ästhetisieren. Da wird offenbar der amerikanische Regisseur Robert Wilson imitiert, ein mystisch-surrealistischer Theatraliker, und das verrätselt den Autor zusätzlich.

Müller ist auch bei diesen Texten, die obendrein nicht an bestimmte Figuren gegeben sind, schwer zu erschließen. Die monologischen Reihungen expressiver Satzballungen sind verkappte Dialoge, zusammengehalten von realistischer Weltsicht, gebrochen aber auch von skeptischer Sorge. In seiner Nachbemerkung zur „Wolokolamsker Chaussee" behauptet der Dichter, in einem „Zeitalter der Konterrevolution" zu leben.

In seinen Texten widerlegt er sich selbst, zumindest mit den nach Motiven von Alexander Bek und Anna Seghers gestalteten Teilen I bis III. Das Atemberaubende dieser Beispiele proletarischer Tragödie ist, wie der Autor an Hand elementarer Grundsituationen, indem er Kommunisten bei folgenschweren Entscheidungen zeigt, revolutionäre Tat und auch Botschaft schaubar und empfindbar macht.

Diese geistige Dimension fehlt den jetzt in Potsdam aufgeführten letzten beiden Teilen. Sie haben die Haltung bitteren Feststellens von Konflikten, die der Autor in dieser Art im Prozeß ständiger tiefgreifender Wandlungen unserer Gesellschaft nicht erwartet hat. Das reicht lediglich für eine Farce wie „Kentauren" (Teil IV), eine kabarettistische Attacke auf mögliche Amtsschimmelei.

Am Hans-Otto-Theater wird der Text von den Darstellern Eva Weißenborn, Eckhard Becker und Michael Walke dezent und bestimmt gesprochen. Dabei schauen sie mal pfiffig, mal melancholisch, mal spöttisch, dann wieder verdrießlich, jedenfalls in vielen mimisch amüsanten Varianten aus den kleinen Fenstern eines Kabinetts (Szenenbild: K. P. M. Wulff), das an ein Kasperltheater erinnert oder an ein fröhliches Wetterhäuschen. Das hat Unmittelbarkeit und einen gewinnenden Humor.

Teil V, „Der Findling" geheißen und nach Kleist erfunden, resümiert die Enttäuschung eines Vaters, der Kommunist ist, über den Findling, seinen adoptierten Sohn. Diesen konnte elterliche Fürsorge nicht abhalten, sich vaterlandsfeindlich zu verhalten. Die Geschichte wirkt defensiv. Einem wahrscheinlichen Einzelfall billigt der Autor Allgemeingültigkeit zu.

Fast zwangsläufig gerät die Regie hier ins Ungefähre. Die für den Vorgang gewählte Spielsituation scheint mir allerdings brauchbar: Drei Bürger hocken leicht duselig am Tresen einer Bar — und erinnern den Fall, räsonieren, fabulieren. Logisch mag auch sein, daß sie zwischenhinein tanzen. Doch ihr steifes, sich stereotyp wiederholendes Zeremoniell, ein pantomimisch karikierender Tanz in märchenhaft-pompöser Galakleidung, ist von einer anderen, von einer sterilen Kunstwelt. Müllers Text verschwindet hinter künstlichem Gehabe. Ein in der Ferne immer wieder kläglich heulender Hofhund läuft ihm sogar den Rang ab.

Dies musikalisch aufbereitete Ritual für Teil V korrespondiert mit einer zum Auftakt des Abends das Publikum nervenden Pantomime, von Eva Weißenborn eine halbe Stunde lang zelebriert: eine Frau voll stiller Hingabe an Musik, die von außen in ihre Behausung klingt. Mit fortwährender Wiederholung der immer gleichen Tonfolgen aber fällt sie zunehmend in exaltierte Verzweiflung.

So zerspielt ästhetisierende Regiephantasie den Versuch eines Dramatikers, über wesentliche Fragen gesellschaftlicher Entwicklung ins Gespräch zu kommen.

 

 

 

Neues Deutschland, 28. Februar 1989