„Wolokolamsker Chaussee“ von Heiner Müller am Schauspielhaus Leipzig, Regie Karl Georg Kayser und Dietmar Seyffart

 

 

 

 

Skeptische Zuversicht

 

Theater in der Wende. Erster Report aus Leipzig. Dort probierte das Ensemble seit August Heiner Müllers Versapokalypse „Wolokolamsker Chaussee I—V". Woche für Woche führte der Demonstrationszug der Messestädter auch am Schauspielhaus vorbei, gelegen gegenüber dem Gebäude der Staatssicherheit. Montag für Montag unüberhörbarer, unübersehbarer holte das Leben die Kunst ein.

Bis in den allerletzten Nerv sensibilisiert arbeiteten die Schauspieler. Formales Ästhetisieren? Radikales Straßentheater? Was schien geboten? Müllers komprimierte, auf konkrete Figuren nicht festgelegte Texte sind multipel nutzbar. Agitation kaum, befanden die Künstler. Aber Schärfe. Drängende Ungeduld. Anfang Oktober deuteten sich erste Entscheidungen an, in Dresden, in Leipzig. Endlich reagierte auch Berlin. Eine Wende wurde verkündet.

Über Nacht bekam die Begegnung mit Müllers poetischem Material neue Dimensionen. Ungeschöntes Aufarbeiten geschichtlicher Widersprüche wurde noch zwingender. Der Dichter hat beträchtliche Vorleistungen erbracht. Nicht nur dies wurde deutlicher denn je. Jetzt war noch weniger Agitation gefragt. Jetzt ging es um die Kraft künstlerischer Wahrheit, um das offenlegende theatrale Bild.

So berührten sich zur Premiere letztendlich Straße und Bühne. Aber es ist, scheint mir, noch eine brüchige Berührung, brüchig wie vieles in diesen Tagen. Auch vermag ich auf Anhieb nicht alle Aspekte zu erfassen. Zu frisch sind die Eindrücke, zu neuartig treffen sich Kunst und Wirklichkeit.

Verhandelt wird das Verstricktsein des Individuums in von ihm scheinbar und tatsächlich kaum beeinflußbare soziale Bedingungen. Dennoch gibt es gravierende Schnittpunkte. Unerwartet darf, kann, soll oder muß der einzelne eingreifen in Geschichte und Geschicke. Der Dichter bietet Beispiele aus dem Krieg der Sowjetunion gegen das faschistische Deutschland, Motive von Alexander Bek nutzend. Er bindet seine Beispiele an Ereignisse im Juni 1953 in unserem Land, 1956 in Ungarn, 1968 in der CSSR. Schnittpunkte jeweils, an denen Entscheidungen fallen, die, hinausgezögert oder getroffen, tragische Folgen haben. Wie kann der Mensch als Mensch, als Subjekt, bestehen?

Die von mir angesprochene Thematik ist gewiß nur eine der Flächen auf Müllers Textfacetten. Wenn ich sie jetzt aus aktuellem Anlaß besonders im Auge habe, bin ich vielleicht ungerecht gegenüber wochenlanger Arbeit, die nicht auf solche Prononcierung aus war, sondern die Konfliktballungen möglichst universell bedienen wollte.

Die Inszenatoren, Regisseur Karl Georg Kayser und Choreograph Dietmar Seyffert, zeigen Spielerfindungen, die den Schauspieler in den Versuch verwickeln, Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen Menschen asynchron zur Rede vor allem pantomimisch auszudrücken. Figuren agieren doppelt. Tänzer demonstrieren angesagte Kämpfe simultan als körperliche Kommentare. Das hat insgesamt einen hohen Innovationsreiz, hat Dynamik. Es ist abwechslungsreich und dicht gearbeitet, bis hin zu sprecherischer Präzision. Aber die gewollte Trennung von Sprache und Körper ist oft tatsächlich Trennung statt beredte Dialektik. Die chaotisch wie geordnet sich ent- und widersprechenden Textaussagen werden nicht durchweg plastisch und hart im Raum behauptet, sondern von äußerlich wirkendem Körperspiel überlagert. Des Dichters Lebenspanorama enthält, finde ich, mehr historische Erbarmungslosigkeit, als diese Inszenierung sinnfällig zu machen vermag.

Fast scheint es, als sei daran gelegen gewesen, die kruden Härten der poetischen Alpträume zu lindern. Das hinzu erfundene Vorspiel steht dafür, eine musikalisch untermalte Pantomime. Auf einem Podest im Rücken des Publikums lockt eine schöne Puppe im Lehnstuhl unter Palmen, bunt illuminiert. Sehnsucht dahin, nach fernen Ländern, zelebriert die Spielgruppe zum nostalgischen Schlager „Wenn bei Capri..." Das bringt eine Farbe in den Abend, die mit „operettig" gewiß ungenau umschrieben ist. Zumindest in bezug auf die Volkslieder, die, wie „Kein schöner Land in dieser Zeit... ", zwischenaktig hineingesungen, nicht nur auflockernd und heiter, sondern auch bitter sarkastisch empfunden werden können.

Die fünf Teile der von 1984 bis 1987 geschriebenen „Wolokolamsker Chaussee" wurden hier, in umgestellter Reihenfolge, erstmalig (nach einem Versuch des Berliner Theaterwürfels) im Zusammenhang gezeigt. An Theatern unter anderen in Potsdam und Schwerin sind bisher Teile meist in intimen, für das Wort günstigen Spielräumen vorgestellt worden. In Leipzig funktionierte Bühnenbildner Axel Pfefferkorn Zuschauerraum und Bühne unter Verzicht auf den Rang zu einer Spiellandschaft um, zwischen der und um die herum das Publikum sitzt. Eine Achse in der Mitte, ein Laufsteg, fungiert als Chaussee, als mögliche Wegstrecke.

Letztlich aber drängt sich doch alles wieder auf der Bühne. Im „Kentauren "-Spiel wird der Raum noch am effektivsten genutzt. Diese Farce haben die Inszenatoren an den Schluß genommen und „musicalisch" aufgeputzt. Das ergänzt sich ästhetisch mit dem Vorspiel, ist hier von einer frech-selbstbewußten Ironie.

Auch die Umstellung der Teile scheint mir legitim. „Der Findling", Teil V, nach dem Vorspiel geboten, zwingt ob seiner besonders zeitnahen Bezüge zur Aufmerksamkeit, auch ein Publikum, das im Umgang mit solchem Text und solcher Spielweise noch unerfahren ist. Doch welche Reihenfolge auch immer, das Gefüge der Zusammenhänge ist ohnehin unendlich.

Einen zutreffend übergreifenden Gedanken fand ich außerhalb des Stückes. In den Foyers des Schauspielhauses haben die Künstler Sentenzen ihres Autors ausgehängt. Darunter unübersehbar diese: „Solange wir an unsere Zukunft glauben, brauchen wir uns vor unserer Vergangenheit nicht zu fürchten." Eben an dieser hochkarätigen geistigen Legierung arbeitet Müller als Dichter, nicht eben als Demo-Redner, wie sich unterdes herausstellt. In Leipzig unterstützten ihn die Akteure, von denen die Damen Ellen Hellwig, Käte Koch und Birgit Krause sowie die Herren Wolf-Dieter Rammler, Friedhelm Eberle, Fred-Artur Geppert, Werner Godemann und Frank-Michael Köbe genannt seien. Beim Publikum schlug die Realität durch. Es applaudierte mit höchst skeptischer, sage ich mal, Zuversicht.

 

 

Neues Deutschland, 14. November 1989