„Wolokolamsker Chaussee“ von Heiner Müller
vom Berliner Ensemble und Theater im Palast, Regie Christoph Schroth
Ein Weg des Leids und wenig Hoffnung
Theater in der Wende. Erster Report aus Leipzig über Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee" (ND vom 14. November 1989). Zweiter Report aus Berlin über das nämliche Stück. Vorherrschender Eindruck auch diesmal: Der Dramatiker besteht in bewegter Zeit. Mit seiner fünfteiligen Versapokalypse hat er offene Wunden schon benannt, als sie offiziell noch verborgen wurden. Naheliegend und zu begrüßen daher, daß das Theater im Palast und das Berliner Ensemble dieses Werk gerade jetzt in einer Gemeinschaftsproduktion auch in Berlin in die Debatten des demokratischen Neubeginns einbringen.
Als Bühnenbildner Lothar Scharsich den
Spielraum für die Inszenierung in den Kinosaal des Filmtheaters Am
Friedrichshain projektierte, schien in Berlin die Zeit noch stillzustehen. Er
setzte — anders als Axel Pfefferkorn in Leipzig —
nicht die Wegstrecke ins Bild, einen Steg längs durch den Zuschauerraum.
Er wollte Konzentration. Er arrangierte das Publikum sich gegenübersitzend
links und rechts vor eine große, teils von unten beleuchtete Aktionsfläche:
magischer Platz für das Offenlegen menschheitlicher wie kreatürlicher
Widersprüche.
Christoph Schroth, der Regisseur, nahm den
Raum an. Vielleicht — zumindest anfangs — überwiegt in seinen Spielerfindungen
ein wenig das Formalisierende, das Zuständliche im Schicksalhaften. Vielleicht
ist das getragene Aufsagen der Texte in chorischem Sprechrhythmus auch als
Synonym für schier Unabwendbares gemeint. Die Teile I und II nach Alexander
Bek, „Russische Eröffnung" und „Wald bei Moskau", die ältesten Parte,
haben ohnehin eine förmlichere Struktur. Wie auch immer, Schroth macht sie auffällig
— ohne ihre Inhalte zu beschädigen.
Bekanntlich verhandelt Heiner Müller das
existentielle Geworfensein des Individuums in von ihm scheinbar und auch
tatsächlich kaum beeinflußbare gesellschaftliche Prozesse. Er bietet Beispiele
aus dem Krieg der Sowjetunion gegen das faschistische Deutschland, er bindet
sie an Geschehnisse im Juni 1953 in unserem Land, 1956 in Ungarn, 1968 in der
CSSR. Immer wieder, macht Müller bewußt, gibt es Schnittpunkte, an denen der
einzelne, gewollt oder ungewollt, Entscheidungen fällen muß, die,
hinausgezögert oder getroffen, tragische Folgen haben. Wie kann der Mensch als
Mensch bestehen?
Deutlicher als ich das bisher in Aufführungen
einzelner Teile sah, schildert Schroth assoziativ das Ausgeliefertsein. Uno:
wie der durch den zweiten Weltkrieg ausgelöste und mit der Liquidierung des
Faschismus beginnende revolutionäre Aufbruch einiger Völker Europas zugleich
deren stalinistische Fesselung war. Und: wie die Völker an diesen Fesseln
zerrten, wie sie sich anschickten — Auftakt auch 1953! -, sie zu zerreißen. Ob damit — wie der Dichter
kundtut und aktuelle Anzeichen bestätigen — in mechanistisch-fatalistischer
Abfolge zugleich und tatsächlich ein Zeitalter der Konterrevolution einhergeht,
werden unsere Generationen zu durchleben und kommende zu analysieren haben.
Das Theater, so hellhörig es sich engagiert,
kann mit seinen ins Ästhetische gehobenen Geschichten bestenfalls helfen,
soziale Umbrüche geistig gründlicher zu verarbeiten. Schroth, Fürsprecher eines
eingreifenden Theaters, rückt nicht zufällig Teil III („Das Duell"), in
dem es um eine historische Zäsur geht, ins Zentrum seiner Inszenierung. Im
komprimierten, an konkrete Figuren nicht gebundenen Text Müllers entdeckt er
die Fabel. Schaubar wird eine aufwühlende Chronik deutscher Geschichte um den 17. Juni 1953.
Ein Betriebsleiter, Antifaschist, sieht sich mit einem Ingenieur konfrontiert, den er vor Jahren — gewiß
diktatorisch — auf die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät delegiert hat, wo er von
einem ehemaligen Nazi ausgebildet wurde, von eben dem Professor, der ihn nach
1933 von der Universität gejagt hatte. Dieser Konfliktkonstellation gibt
Schroth Allgemeingültiges, indem er den Leiter und seine Gegenfigur jeweils
sechsmal auf die Szene nimmt und jede Gestalt individuell agieren läßt, mal
mehr Typ, mal mehr konkrete Figur. Derart gelingt ihm ein Zeitgemälde, krude,
auch freundlich, das die erbarmungslose Gegensätzlichkeit jener
schicksalschweren Tage ebenso zeigt wie das letztlich menschlich Verbindende.
Eine glänzende Phantasie-, eine glänzende Regieleistung. Für darstellerische
Dichte sorgen die Damen Barbara Bachmann, Gunda Ebert, Nadja Engel, Andrea
Solter, Gabriele Streichhahn und die Herren Jens-Uwe Bogadtke, Klaus Hecke,
Wolf-Dieter Lingk, Herbert Olschok, Veit Schubert, Götz Schulte und Horst
Westphal.
Im ersten Teil („Russische Eröffnung")
gibt Horst Westphal einen sowjetischen Veteranen, der, bequem im Sessel, wie
ein Buchhalter des Krieges gemütskalt über den Deserteur berichtet. Ob
allerdings die Diktion so quarrend-quenglig eintönig sein muß, weiß ich nicht.
Andrea Solter fällt auf, die den Deserteur spielt. Sie formalisiert die Sprache
nicht, läßt Emotionen hindurch.
Die personelle Doppelung des Kommandeurs im
zweiten Teil („Wald bei Moskau") hat ihre Begründung im pantomimischen
Griff zur Pistole, wenn scheinbar Sowjetfeindliches gesagt wird. Die gespaltene
Person erledigt eine Hälfte von sich. Jedes mal ein Akt mörderischer
Selbstjustiz. Barbara Bachmann neigt zum Literarisieren des Textes, Wolf-Dieter
Lingk behandelt ihn etwas zu stillos. Götz Schulte, der den Arzt gibt, hat eine
Unmittelbarkeit und Schärfe des Gedankens, die anspricht.
Nadja Engel und Veit Schubert als
Zirkusclowns im vierten Teil („Kentauren") schlagen sich virtuos. Freilich
wird mit Possenspiel auch manches verharmlost, was bitterer gemeint ist. Aber
die „Verwachsung" des Kentauren mit seinem Schreibtisch ist trefflicher
nicht zu inszenieren. Eine große Szene haben Klaus Hecke und Herbert Olschok im
fünften Teil („Der Findling"): Vater und Adoptivsohn, Kommunist und
Neonazi, gedemütigter Genosse und dummer Junge in unversöhnlicher, tragischer
Konfrontation — mündend in einen Schrei ohnmächtiger Verzweiflung.
Wolokolamsker Chaussee — in den Texten des Tragikers
Heiner Müller eine Wegstrecke des Leids und von wenig Hoffnung. Russisch die
Eröffnung, Deutsch das Ende? Dem Dichter schreibt die Geschichte neue Kapitel.
Neues
Deutschland, 21. Dezember 1989