Peter Brook wird siebzig
Wahres politisches Theater ist Opposition
Anfang und Ziel ist der Mensch. Nur das zählt für Peter Brook, den derzeit bedeutendsten Theaterregisseur der Welt. Heute wird der Engländer siebzig Jahre alt. Sein Leben ist ein einzigartiger, immer wieder neuer Anfang auf dem Wege zum letztlich nie erreichbaren Ziel.
Der kleine, unscheinbare Mann mit
schütterem weißem Haar auf markantem Schädel und hellwach blickenden Augen
tritt zurückhaltend auf, hat Kommerz-Attitüden nicht nötig. Er strahlt Ruhe
aus, Ausgewogenheit, Vertrauen. Wenn er spricht, dann leise, wägend, aber
bestimmt und durchdacht. Erfahrungen des Lebens und des Theaters verschmelzen
bei ihm zu überzeugenden Einsichten. „Wahres politisches Theater", sagt
er, „befindet sich in ständiger Opposition zu jeglicher politischen Lehre.
Deshalb dient es auch dem höchsten politischen Ziel: uns alle, Schauspieler wie
Publikum, für die Komplexität der Realität empfänglicher zu machen. Dann sind
wir in einer besseren Position, eigene Entscheidungen zu treffen, ohne daß
jemand uns sagen müßte, welche."
Brook, Kind russischer Eltern, hat an der
renommierten Universität von Oxford studiert und debütierte 1943 als Regisseur
mit Marlowes „Doktor Faustus". Er arbeitete in Birmingham, Stratford und
London, übernahm Opernregie am Covent Garden. In den 60er Jahren war er
Mitdirektor der Royal Shakespeare Company und inszenierte neben Stücken von
Dürrenmatt, Anouilh, Genet und Weiss vor allem Werke von Shakespeare. 1966
nutzte er Techniken der Music-Hall und der Show zu seiner Kollektiv-Improvisation
„US", einer Demonstration gegen den Vietnam-Krieg.
1968 publizierte der inzwischen
berühmte Regisseur sein Buch „Der leere Raum", ein behutsames,
phantasievolles und als programmatisch aufgenommenes Kompendium über die
Bretter, die die Welt bedeuten. Bedeuten können, so es gewollt wird. Von den Künstlern.
Vom Publikum. Möchte der Zuschauer, fragt Brook, „daß in seinem Innern, seinem
Leben, seiner Gesellschaft sich etwas ändert? Wenn nicht", antwortet er, „dann
braucht er das Theater als Ätzmittel, Vergrößerungsglas, Scheinwerfer oder Ort
der Konfrontation gar nicht."
Brook hat die Multifunktionalität der
Bühne immer wieder ausgelotet. Ritual und Orgiasmus kennzeichneten seine Aufführungen
des „Ödipus", des „Seneca". Artistik und schauspielerische Verve bestimmten
seine Inszenierung des „Sommernachtstraums" von Shakespeare, mit der er
„Abschied" nahm vom „konventionellen" Theater. Ihn interessierten
Mittel des Theaters in Afrika und Asien. Ab 1970 experimentierte er in Paris
im von ihm gegründeten Centre International de Recherche Théatrale, einem Zentrum
für Theaterforschung. Mit Mitarbeitern aus den USA, Deutschland, England, Frankreich
und aus Afrika unternahm er den Versuch - „Orghast" genannt -, eine
theatrale Universalsprache zu entwickeln. Danach reiste er mit einer Spielgruppe
über drei Monate durch Westafrika, erlebte Zuschauer, die noch nie europäisches
Illusionstheater gesehen hatten. Während der Zeit entstand die Aufführung des altpersischen
Stückes „Versammlung der Vögel" von Attar. 1974 zog sein C.I.R.T. in das
Théatre des Bouffes du Nord, wo er ein Jahr später seine Aufführung „Les
Ikes" zeigte, ein Stück über die Vernichtung der Indianer. Und 1985
brachte er nach zehnjähriger Vorbereitung die Neun-Stunden-Produktion des
Sanskrit-Versepos „Mahabharata".
Welch universeller Souverän des Theaters! Zu den Berliner
Festwochen 1993 gastierte er mit seiner Creation „L'homme qui" („Der
Mensch, der"), einer faszinierenden theatralen Recherche. Nachdem der
hypersensible Realist jahrzehntelang tief in die Menschenwelt und ihre Theater
vorgedrungen war, erkundete er nun auch noch die erkrankte Psyche. Gesellschaft
- Mensch - Debilität. Schloß er einen Kreis? Gab er Anfang und Ziel ein Ende?
Wünschen wir dem betagten Theaterkundschafter und -schöpfer,
daß er noch lange und immer wieder fündig wird.
Neues
Deutschland, 21. März 1995