„Der blaue Boll“ von Ernst Barlach in den
Kammerspielen des DT Berlin, Regie Rolf Winkelgrund
Charaktere wie Schnitzwerke
Tanzender Mond und schwebende Sonne —
leuchtend hell sind sie in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin beim
Umbau der Szenen für Ernst Barlachs Drama „Der blaue Boll" zu sehen.
Strahlender Einfall des Bühnenbildners Eberhard Keienburg als Sinnbild für das
geisternde Auf und Ab, das irdische Hin und Her dieser phantastischen Schnurre
aus dem Mecklenburg der zwanziger Jahre.
Auf einen prosaischen Nenner gebracht: Gutsbesitzer Boll, einsam und majestätisch in Krönkhagen hausend, beleibt und schwer im Atem schon, aber noch recht gut im Fleisch, kommt mit seiner Frau Martha nach Sternberg. In dieser Kleinstadt trifft er unverhofft auf den lieben Herrgott und dessen Propheten Elias. Doch zunächst läuft ihm auf dem Marktplatz die spintisierende, dralle Grete über den Weg. Eben noch über den Sinn seines Lebens nachdenkend, steigt er ihr nach bis in den Kirchturm. Aber bei Grete, dieser Hexe vom Lande, kommt er nicht zum Zuge. Elias — der Kneipier am Ort ist — spannt sie ihm erst einmal aus. Doch Boll gibt nicht auf; diese Grete geht ihm selbst beim fröhlichen Umtrunk nicht aus dem Kopf. Kein Wunder, daß seine Frau davon nicht erbaut ist. Gutsbesitzer Boll, der seine Ordnung haben will, zwingt sein Eheweib, sich mit der anderen auszusöhnen, basta.
Der Bildhauer Barlach hatte schon früh auch
zur Feder gegriffen. Seinen meisterlichen Plastiken stehen sprachlich
ausgefeilte, sehr konkrete Prosaarbeiten gegenüber, die Barlach auch als einen
genau beobachtenden Literaten ausweisen.
Auf dem „Buchstabenweltmeer" kreiste
sein Schaffensdrang immer wieder um die „Probleme des Lebenssinns".
Religiöses Weltempfinden, komödiantische Lust und nachdenkliche Sehnsucht nach Entwicklung,
die keine Erfüllung findet, verbinden sich im „Blauen Boll" zu
kauzig-hintergründigem Realismus.
Barlachs Geschöpfe meditieren über
„Werden" und „Verändern", beiläufig die einen, hartnäckig die
anderen. Das führt zu herrlich komischen Dialogen, aber auch zu absurd
kobolzenden Disputen, wenn aus überirdischen Sphären sehr selbstverständlich irdisch
mitdebattiert wird. Und Schemen wohnen in der mecklenburgischen Landschaft mit
ihren Nebeln, mit den verwischten Perspektiven winkliger Gassen gleich um die
Ecke.
Lösungen von sozialen Fragen präsentieren
mochte Barlach nicht, sah er nicht. Aber er registrierte seismographisch: Gutsbesitzerlicher
Stand wird brüchig, wenn auch vorerst nur ehe-brüchig. Aus den geheimnisvollen Tiefen
Barlachscher Poesie leuchtet die Liebe zum Leben.
Regisseur Rolf Winkelgrund setzt auf drastische
Realistik und nimmt das Dämonische, das Symbolische fest an die Hand. In Keienburgs
plastischer Szenerie — in der nicht Katen sich hinducken im Schatten der
Kirche, sondern Häuser sich hochrecken wie Konkurrenten des Doms — agieren markante,
kräftige Gestalten wie Schnitzwerke des Dichters: die bieder-treue, in ihrem
Glauben erschütterte Frau Martha (Elsa Grube-Deister), die irre faselnde und
doch so trocken-vernünftige Grete der hervorragenden Jutta Wachowiak, der trotzig-sture
Mann Gretes (Thomas Neumann). Ein herrlich poltriger Prunkhorst ist Rolf
Ludwig, der einfältige Schuster Horst Hiemer. Reimar Joh. Baur besticht als „Ein
Herr" und Peter Borgelt gibt den dreisten Elias.
Kurt Böwe spielt einen von selbstbewußter
Zufriedenheit geradezu gemästeten Gutsbesitzer Boll. Er gibt ihm schwerfällige Fülle,
aber mitunter auch diskrete Unscheinbarkeit. Zuweilen treibt er ihn unnötig in
heldisches Pathos, bedient wohl auch zu wenig dessen launigen Lakonismus, doch stets
hält er ihn in Distanz zum Publikum.
„Der blaue Boll“ — eine geglückte
Bereicherung des Spielplans mit dem Stück eines Humanisten.
Neues
Deutschland, 29. März 1985