„Böhmen am Meer“ von Volker Braun am Schiller-Theater Berlin, Regie
Thomas Langhoff
Die ganze beschissene Welt auf dem Buckel
Respekt vor dem Lyriker Volker Braun, der sich treu ist und nach wie vor
den heiligen Ehrgeiz hat, die ganze beschissene Welt auf seinem Buckel
davonzuschleppen. Wenn er seine monströse Last freilich mit einer Gewalttat auf die Bühne hievt,
wozu ihm Thomas Langhoff am Berliner Schiller-Theater Gelegenheit gibt, reicht vorab
verkündetes wohlwollendes Verständnis nicht hin.
Mit „Böhmen am Meer", seinem neuesten, jetzt uraufgeführten
Werk, nimmt Braun alle Welträtsel ins Visier, verliert sich aber in Sentenzen strotzende
Betrachtungen. Entgegen aller Dynamik derzeitiger sozialer Prozesse spinnt er
seinen möglichen dramatischen Faden aufdröselnd kreuz und quer. Und zu
psychologischer Sensibilisierung seiner Figuren dringt er nicht vor, bleibt
vielmehr an deren verkrusteten Oberflächen. Sein sympathisierender Regisseur -letztes
Ereignis „Übergangsgesellschaft" 1988 am Maxim Gorki Theater - hätschelt
obendrein etwas betriebsblind die elegische Langatmigkeit, mit der der Einfall ausgebreitet
ist.
Shakespeare folgend etabliert Braun ein fiktives Böhmen
am Meer, eine trügerische Idylle an umweltverschmutztem Wasser (Volker Pfüller
sorgte für ein ansehnliches Bühnengewässer in karg-schöner Landschaft), wohin
Pavel 1968 aus Prag emigriert ist. Dorthin eingeladen hat der Tscheche in
Haßliebe ehemalige Freunde: Michail, den bankrotten Chefredakteur aus Moskau,
und Bardolph, den bankrotten Industriellen aus Amerika.
Am Ort nun wird großspurig Politik verhandelt, das absolute Scheitern
guter Vorsätze. Und kleinkariert Liebe strapaziert. Zum Beispiel, ob Pavels
Sohn Vaclav nicht gar von Michail stammt oder von Bardolph. Denn Frau Julia ist
so zauberhaft wie männergierig. Auch Robert, den jungen Physikstudenten, der
Raja, Michails Tochter, aus Rußland herauszuschmuggeln wußte, würde sie auf
ihre alten Tage noch vernaschen. So daß Vaclav, schockiert von der perfiden
Welt, doch tatsächlich eine wahre Zerstörungswut kriegt und ein Flittchen fast
umbringt, das ansonsten brauchbar am Meer herumspaziert. Pavel nun wiederum,
anfangs in einiger Wohlhabenheit vorgeführt, zumindest gegenüber den
Einheimischen, den „Kannibalen", Pavel hat das Stehvermögen nicht, die
anhaltende stupide Selbstgerechtigkeit Michails und Bardolphs zu kompensieren.
Der kleine Mann, der er ist, nimmt sich das Leben: zermalmt zwischen den
Großmächtigen. Und dann kommt auch noch eine Sturmflut über's Land. Des Dichters
jüngstes Gericht.
Klischee und Originalität sind zu einer Legierung
verschmolzen. Und Thomas Langhoff, der Chef vom Deutschen Theater, hat mit
bewunderungswürdiger Phantasie die Schauspieler über die abstrakten Texte
hinweg zu einigermaßen lebendigen Menschen geführt. Dieter Montag gibt den
zerknirschten Michail, Lambert Hamel den cleveren Bardolph. Christian Grashofs Pavel
allerdings bleibt vordergründig rhetorisch. Michael Maertens markiert den
halbwüchsigen Vaclav mit eingeknickten Knien. Ulrich Noethen macht den liebesunglücklichen
Robert passabel. Schwach die Frauen. Jutta Hoffmann kommt mit der Sinnlichkeit dieser
Julia nicht recht klar. Therese Hämer als Raja kriegt die Abstrakta ihres
Textes nicht über die Rampe. Und Christiane Leuchtmanns Flittchen demonstriert
Körper als Pausenfüller.
Zur Premiere war die Meinung des Publikums geteilt. Dem Autor waren die
meisten Buh-Rufe gewidmet. Was einem unverdrossen politischen Schreiber auch
zur Ehre gereichen kann. Indessen, ich muß gestehen, die Figuren und ihre Konflikte,
so superaktuell sie angelegt sind, erreichen ihre Rezipienten tatsächlich nur
schwer. Wohl nicht, weil die sich a priori aller zeitgenössischen Aufarbeitung
verschließen. Wohl eher, weil sie diesen mit Politismen gespickten
Tschechow-Verschnitt zu sprachröhrig empfinden. Wenn Braun seine Figuren Witze
erzählen läßt, stelzt er übrigens nicht. Da ist er direkt, urwüchsig,
elementar. Warum nicht überhaupt?
Neues
Deutschland, 12. März 1992