„Der verwunschene Berg“ von Erich Köhler am Theater der Stadt Schwedt, Uraufführung, Regie Tatjana Rese

 

 

 

Wie Baudirektor Sebastian seinen Kindheitswunsch wegbaggerte

 

Uraufführung des Schauspiels „Der verwunschene Berg" von Erich Köhler am Theater der Stadt Schwedt. Die phantasieintensiye Gegenwartssage von „Hartmut und Joana" legte der Autor bereits 1980 in Prosa vor, auch wurde sie inzwischen verfilmt. Als Theaterstück hätte sie sich ob ihrer lakonischen Episoden und Momentaufnahmen in einem sachlich-nüchternen Stil inszenieren lassen. Womit ihr stimmungsvoller Reiz freilich nicht bedient worden wäre. Regisseurin Tatjana Rese entschied sich für eine freundlich-ironische Lesart. Ihre Darsteller tragen sie mit anmutiger Laune vor. Liebenswürdig zitiert wird die Romantik großer Aufbauzeit.

Da entsteht mitten in einer weithin flachen Kiefernlandschaft über eine Spanne von dreißig Jahren ein riesiges Chemiewerk und eine dazu gehörende Wohnstadt. Das wäre gewiß Anlaß zu Feier und Pathos. Aber natürlich geht es um die Menschen. Und die haben, jeder für sich, ein unterschiedliches, oft sogar widersprüchliches Verhältnis zu dem, was sie selbst mit errichtet haben. Die einen erfüllt Stolz, die anderen begreifen im Grunde gar nicht, woran sie historisch mitwirkten. Manche sind einfach nur auf dem Wege, suchend, irrend, Ziele verfehlend oder erreichend. Unterwegs sind sie alle.

Erich Köhler skizziert Joana, die zwanzigjährige Transportarbeiterin, die sich zielstrebig etwas abverlangt, sich qualifiziert, sich gesellschaftlich engagiert und die schließlich als Oberbürgermeisterin gewählt wird. Und er skizziert Hartmut Wagner, einen genügsamen Transportarbeiter, der in jungen Jahren fast Joanas Mann hätte werden können, aber kein Glück hatte bei ihr und obendrein keinen Sinn für lebenspraktische Entscheidungen. Er arbeitet rechtschaffen, macht sich verdient in der Kampfgruppe, in seiner Freizeit jedoch lebt er ungewöhnlich. Woche für Woche, Jahr für Jahr größer und höher häufelt er mit einer Schubkarre einen „Berg" in die Gegend, just zwischen das entstehende Industriekombinat und die Neustadt.

Womit gemeint sein könnte und wohl auch ist, daß da einer existiert, der irgendwie nach Höherem Sehnsucht hat, nach einer Lebenserfüllung, die weder Kombinat, Wohnung noch eine Frau bieten können. Ein Einfaltspinsel? Ein Quertreiber? So jedenfalls nennt ihn Joana. Auch andere sehen ihn so. Sebastian gar — der einst als Kind mit seiner Frage „Baust du mir einen Berg?" in Hartmut die Berglust geweckt hatte und inzwischen Baudirektor der Stadt geworden ist — baggert den Hügel einfach weg.

Und der Autor? Er läßt Hartmut verzagen und sterben. Danach bemüht er Moliere (!), den er zwecks positiven Ausgangs nach dem reitenden und rettenden Boten des Königs rufen läßt. Vergebens natürlich. Worauf er einen Mann aus dem Publikum zu Hilfe schickt, der von außen in die Parabel eingreift und die Wiedererrichtung des verschwundenen Berges initiiert. Bei Köhler findet Hartmuts eigenbrötlerisches phantastisches Tun, das nicht von dieser, sondern eben von einer Parabelwelt ist, wo es seine wunderbare verwunschene Berechtigung hat, nachträgliche öffentliche Anerkennung.

Tatjana Rese änderte den Schluß. Sie disponiert Hartmut ins Ausland und verzichtet auf den Franzosen und auf den Mann aus dem Publikum. Sie parodiert, setzt noch einen Gag drauf. Bei ihr fordert Joana autoritär, per Masseninitiative hurtig nicht den alten, vertrauten, sondern einen neuen, strahlend weißen, verheißungsvollen Phantomberg zu erstellen. Was auf dem Theater natürlich problemlos klappt, dank der Bühnenbildkünste Helmut Pocks. In der Realität indessen hätte Frau Oberbürgermeister zumindest ihre Stadtverordneten befragen müssen. Auf alle Fälle bleibt Tatjana Rese im kunstvollen Reich der Parabel und weckt gerade dadurch im Spiel der Assoziationen unaufdringlich auch Gedanken um die Vervollkommnung unserer sozialistischen Demokratie.

Klaus Birkefeld (als Gast) verleiht dem Hartmut Züge eines unauffälligen, geduldigen und bescheidenen Sonderlings, wenngleich mir die Figurenskizze Köhlers nicht ausgeschöpft scheint. Ich wünschte mir Hartmut sympathischer, aber auch ein verfremdendes Quentchen Kritik an seiner offenkundigen Spinnerei. Die Joana von Birgit Edenharter überzeugt in ihrer jugendlichen Unbekümmertheit, auch in ihrer kühlen Art, mit den Männern umzugehen, und in ihrem selbstbewußten Stolz, für und mit den Bürgern der Stadt allerhand vollbracht zu haben. Figurenprofil gewinnen auch Helga Isensee als alleinstehende Transportarbeiterin Hertha und Torsten Spohn als etwas windiger Brigadier Schwaan. Gunda Aurich, Antje Bemm, Antje Goldmann und Kerstin Thiel gefallen als munter-adrettes Frauen-Quartett.

Die Idee der Regisseurin, zwei zeitlose Clowns (Olaf Hilliger, Mathias Mertens) einzuführen, die in diese oder jene Nebenrolle schlüpfen, bringt zusätzliche Überdehnungen, betont andererseits die Parabel und befördert gelegentlich, wenn auch äußerlich, etwas Humor in die Geschichte. Der anhaltend geruhsam-spröde Cello-Vortrag zwischen und in den Szenen (Peter Koch als Gast) gemahnt immer wieder zu getragenem Ernst. Die Uraufführung hat trotz einer gewissen Langatmigkeit einen ästhetischen Charme, dem man sich nicht entziehen kann. Da wird ein intimer Blick geworfen in die widersprüchliche sozialistische Gesellschaft. Die vorwiegend jugendlichen Zuschauer spendeten herzlichen Beifall.

 

 

 

Neues Deutschland, 25. Oktober 1989