4. Alltag der Ausbildung
(1920-1933)
4.2 Die
hübschen nackten Beine der Mädchen
Obwohl die Öffentlichkeit sich angesichts der rauschenden Erfolge der Revuen
schnell mit der Attraktivität des schönen Geschlechts anfreundete, mußte sich die Leitung der
Schule einer seltsamen Attacke erwehren. Daß die Schüler in Pantomime unterrichtet wurden, war
nach Reinhardts Erfolg mit der Orient-Pantomime «Sumurun» von Friedrich Freska im
Jahre 1910 nicht verwunderlich, sondern folgerichtig. Nun erreichte Held ein an Max Reinhardt gerichteter anonymer Brief, in dem es hieß: «Dieses Institut, das doch da sein sollte,
die besten Kräfte schauspielerisch
heranzubilden, droht in eine Tanzschule
auszuarten... Wenn auch nicht
abgesprochen werden soll, daß die tänzerischen Übungen vielleicht zweckmäßig und angebracht sind, so wird doch des Guten dort zuviel getan, vielleicht aus
Gründen, die psychologisch erklärbar
sind. Jedenfalls liegt die Ansicht seitens der Schülerinnen sehr nahe, daß man
gerne und so oft wie möglich hübsche, nackte Beine sehen
möchte.» (4.5)
Berthold Held bat daraufhin Fachleute, ihr Urteil abzugeben. Die Antworten waren ein bemerkenswertes Plädoyer für die körperliche Ausbildung
der angehenden Schauspieler und belegen, daß dieses Fach an der Schauspielschule beispielhaft gelehrt
wurde. Regierungsrat Meisler schrieb: «Ich
hatte den Eindruck, daß in diesem
Unterricht durchaus ernste, sachliche Arbeit im Interesse der Ausbildung der jungen Schauspieler und Schauspielerinnen geleistet wurde, die mir als Unterlage für eine
gründliche Ausbildung in der Schauspielkunst notwendig erscheint. Auch
die Bekleidung der Schüler erschien mir
zweckmäßig und dezent. Vom amtlichen Standpunkt
war nichts zu erinnern.» (4.6)
Gustav Rickelt, der Präsident der Genossenschaft Deutscher
Bühnen-Angehöriger, reagierte so: «... konnte ich mit Genugtuung
feststellen, daß endlich in der Ausbildung junger Bühnenkünstlerinnen und
Bühnenkünstler auch der körperlichen Ausbildung die Bedeutung gegeben wird, die
unbedingt für eine vollkommene Körpertechnik notwendig ist, und der bisher in
allen Schulen ähnlicher Art nicht genügend Spielraum
gegeben wurde.» (4.7)
Rhythmische Gymnastik
Leopold Jeßner, (4.8)
der Intendant des Staatlichen Schauspielhauses, nutzte die Gelegenheit, seine Auffassung
darzulegen: «Gestern habe ich einer Stunde rhythmischer Gymnastik in der
von Ihnen geleiteten Schauspielschule beigewohnt und möchte dazu folgendes bemerken. Die
Forderung nach körperlicher Ausbildung eines Schauspielers ist eine prinzipielle und
wurde seit Jahren erhoben. Denn der deutsche Schauspieler - so sehr er in der Kraft seelischer
Ausdrucksmöglichkeiten den Darstellern anderer Nationen überlegen ist - stand hinter diesen bezüglich seiner
körperlichen Ausbildung zurück. Indessen ist die Körpersprache für die Entfaltung darstellerischer
Aufgaben ebenso wesentlich wie die eigentliche: die "Wort-Sprache".
Wie die Sprechtechnik zu dem Elementar-Unterricht eines jungen Schauspielers
gehört, so ist auch das Erlernen der Bewegungstechnik geradezu mit dem Lesen und Schreiben der
Vorschulklassen zu vergleichen. Die Gefahr, daß eine solche körperliche
Ausbildung den Darsteller auf eine rhythmische Bewegung einseitig festlegt,
braucht ebenso wenig vorhanden zu sein, wie die, daß der Schüler das Gelernte mit seinem Ich
identifiziert. Die Darbietungen, die ich während der gestrigen Stunde zu beobachten
Gelegenheit hatte, entsprachen vollkommen der von mir erwähnten Förderung... Auch sind diese Übungen in keiner
Beziehung auf einen bestimmten darstellerischen Stil festgelegt. Die dabei
verwandte Kleidung entspricht dem Zweck durchaus und wirkt nicht im
geringsten anstößig.» (4.9)
Auch
Dr.Hans Knudsen fand «Kleidung und Gebaren sehr dezent und anständig». (4.10) Dr. W.v. Hollander bemerkte, daß «ein mehr an
Bekleidung bei den Damen einen gründlichen Unterricht unmöglich machen würde». (4.11) Und Dr. C. Kaulfuss-Diesch schrieb: «Wer an der
Kleidung Anstoß nimmt, dem möchte ich raten, sich einmal das Familienbad irgend
eines deutschen Ostseebades anzusehen.“ (4.12)
Anmerkungen:
4.5 Brief von «ergebenst X»
an Max Reinhardt v. 16.12.1924, HS-Archiv, Bl. 665 Zurück zum Text
4.6 Brief v. Regierungsrat Meisler an die
Schauspielschule v. 26.1.1925, HS-Archiv, Bl. 666 Zurück zum Text
4.7 Brief v. Gustav Rickelt an Berthold Held
v. 17.1.1925, HS-Archiv, Bl. 671 Zurück zum Text
4.8 Über den Regisseur Leopold Jeßner schrieb Leo Rein: «Er
hat, wie Brahm, ein entschiedenes Gesicht. Wie Brahm ist er nicht ohne
Doktrinarismus... Wie Brahm ist er ein Asket; ohne Sinnlichkeit — im Gegensatz zu dem Sinnenmenschen Reinhardt. Wie Brahm ein Extremer. Ein Starrkopf... Aber er hat die Wucht und die Majestät eines Gereiften und Ernsten. Eines die Welt von oben Überschauenden... Welches aber
waren die wundervollen Eigentümlichkeiten dieser Jeßnerschen Aufführungen
des Richard, des Othello, des Fiesco,
des Don Carlos? Sie strebten nach
Zeitlosigkeit. Sie suchten das Ewige.
Außer in den Kostümen, waren jegliche Attribute des historischen Stils
verbannt. Alles spielt irgendwo und
irgendwann... Ja, Jeßner, möchte man
sagen, inszeniert das Schicksal,
wuchtig, gewaltig und furchtbar.» In:
Berliner Börsen-Zeitung, 22. Februar
1924 Zurück
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4.9
Brief v. Leopold Jeßner an Berthold
Held v. 7.1.1925, HS-Archiv, Bl.
670 Zurück zum
Text
4.10 Brief v. Dr. Hans Knudsen
an Berthold Held v. 2.1.1925, HS-Archiv, Bl. 669
4.11 Brief v. Dr. W. v. Hollander an Berthold Held v.
8.1.1925, HS-Archiv, Bl. 667
4.12 Brief v. Dr. Carl Kaulfuss-Diesch an Berthold Held v.
5.1.1925, HS-Archiv, Bl. 668 Zurück zum Text
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