6. Der Neubeginn (1945 – 1951)
6.1 Befreites
Theater
Der Zweite Weltkrieg, den die Hitlerfaschisten in alle
Welt ausgeweitet hatten und der viele Millionen Menschenopfer gekostet hatte,
war nach Deutschland zurückgekehrt. Die Städte lagen in Schutt und Asche.
Verwüstet war das Land. Obdachlosigkeit. Hunger. Chaos ringsum. Chaos in den
Köpfen. Eine «Reichshauptstadt» existierte nicht mehr. In der Trümmerwüste
Berlin «lebten» noch 2,5 Millionen Menschen.
Am 4. Mai 1945 sprach Wilhelm Pieck, der Vorsitzende der
Kommunistischen Partei Deutschlands über den Sender «Freies Deutschland» zum
deutschen Volk: «Deutsche Männer und Frauen! Deutsche Jugend! Landsleute! Nun
ist die Hitlerbande (am 2. Mai) auch in ihrer Hochburg von der Roten Armee
geschlagen worden. Berlin ist befreit von diesem Verbrechergesindel. Und damit
hat auch für die Berliner der Hitlerkrieg sein Ende gefunden... Aber das ist
nicht nur ein militärischer Sieg, sondern auch der Sieg einer höheren
Gesellschaftsordnung über die tiefste Barbarei... Berlin ist frei von der
Nazibande, sie wird und muß restlos vernichtet werden. Aber unser deutsches
Volk wird weiterleben... Es geht um eine Neugeburt unseres Volkes, um ein
Neubeginnen in seinem ganzen Denken und Handeln.» (6.1)
Am 8. Mai 1945 kapitulierte das
faschistische Deutschland in Berlin-Karlshorst bedingungslos vor den Mächten
der Antihitlerkoalition. Die Befreiung Berlins durch die Sowjetarmee öffnete
den Weg für einen Neubeginn.
Bereits am 19. Mai 1945 führte der sowjetische
Stadtkommandant Generaloberst Nikolai Erastowitsch Bersarin den demokratischen
Berliner Magistrat in sein Amt ein, bestehend aus Kommunisten,
Sozialdemokraten, Gewerkschaftern und bürgerlichen Fachleuten, geleitet von dem
parteilosen Antifaschisten Arthur Werner.
Konstituierende
Sitzung des ersten demokratischen Magistrats von Berlin. Links Stadtkommandant
N.E.Bersarin, rechts Oberbürgermeister Arthur Werner
Bersarin sagte u.a.: «Eine große Aufgabe ist auch von den
Künstlern zu leisten. Sie haben der Bevölkerung der Stadt
Berlin, die gut und hart arbeiten wird, die Möglichkeit zu geben, Befriedigung
und Entspannung zu finden.» (6.2). Ein Befehl der
Sowjetischen Militäradministration in Deutschland hatte Berliner Theatern schon
ab 16. Mai 1945 Spielerlaubnis erteilt. Noch gab es keine neuen Ensembles. Aber
die nach Berlin zurückkehrenden Künstler, die Faschismus und Krieg überlebt hatten,
arbeiteten fieberhaft und in spontaner antifaschistischer Einmütigkeit an der
Wiederbelebung des Theaters. Auch sie waren «Aktivisten der ersten Stunde»,
waren Geburtshelfer eines neuen Lebens.
Fritz Erpenbeck erinnert sich: «Unvergeßlich der erste
richtige Theaterabend im wiedererstehenden Berlin!... Hans Hermann Schaufuß
spielte in einer freiwilligen Darstellergemeinschaft den Striese in "Raub
der Sabinerinnen" im Renaissance-Theater. Zweimal waren wir (und mit uns
zahllose Theaterbesessene) den Ankündigungen gefolgt - vergeblich: Im
entscheidenden Augenblick blieb der Strom fort... Endlich, am dritten Abend,
nach einem neuerlichen Anmarsch durch Trümmer und Staub, sahen wir den Vorhang mit einiger Verspätung sich heben... In der Pause sah ich bewährte "Leute vom Bau",
die natürlich einen Großteil der Zuschauer ausmachten, vor Ergriffenheit
weinen.» (6.3) Dieser «erste richtige Theaterabend»
begab sich am 27. Mai 1945. Neubeginn also mit einem unverwüstlichen Lustspiel -
zur Entspannung der Berliner.
Aber das geistige Chaos war nicht mit Schönthan zu
bewältigen, wenngleich eben auch nicht ohne ihn. Bei allem Respekt vor
Künstlern wie Heinz Hilpert, die ihr Theater als «eine Insel im Meer der
Barbarei» (6.4) vor ärgsten Zugriffen der Nazis zu
bewahren wußten - den allgemeinen Verfall der deutschen Kultur und Kunst hatten
sie nicht aufhalten können. «Der schnelle
Verfall der Kunstmittel unter dem Naziregime», urteilte Bertolt Brecht, «ging
anscheinend nahezu unmerklich vor sich. Daß die Beschädigung an den
Theatergebäuden soviel sichtbarer war als die an der Spielweise, hängt wohl
damit zusammen, daß die erstere beim Zusammenbruch des Naziregimes, die
letztere aber bei seinem Aufbau erfolgte.» (6.5)
Erst jetzt wurden die verheerenden Folgen erkennbar.
Verschüttet war die in sich zwar widersprüchliche, auch gegensätzliche, aber
insgesamt lebendige humanistisch-realistische Theaterkunst, die Brahm,
Reinhardt, Jeßner, Martin, Piscator und Brecht erreicht hatten. Sie
wiederzugewinnen war Voraussetzung, um von der Substanz her und nicht
oberflächlich zu neuen Dimensionen vorstoßen zu können. Aber Wiedergewinnung
allein würde nicht ausreichen.
«Berlin hat erfahren», schrieb Herbert Jhering, «daß das
Theater weder da anknüpfen kann, wo es 1933, noch da, wo es 1944 aufgehört hat,
also sich weder auf das kapitalistische Geschäftstheater, noch auf die
Avantgardetruppen, noch auf die Starbühnen zurückbesinnen darf. Was die Besten
längst gewußt haben, tritt jetzt ins
Herbert
Jhering
Bewußtsein
aller: Wir brauchen, wie für unser ganzes geistiges Leben, auch für das Theater
allgemeingültige Grundlagen, also auch eine allgemeingültige Schauspielkunst,
deren Gesetze der mittleren Begabung Halt geben und das Ensemblespiel regeln.
Der Wiederaufbau bedeutet: Regeneration der Schauspielkunst aus einem Geiste
der Bescheidenheit, bedeutet ihre Erfrischung, Verjüngung, Vereinfachung vom
Erlebnis der Zeit her und ihren Anschluß an die geistigen und
gesellschaftlichen Kräfte überhaupt, die berufen sind, ein
neues Deutschland aufzubauen.» (6.6) Ein wahrhaft freies
deutsches Theater konnte nur ein antifaschistisch-demokratisches sein, das
notwendigerweise die Ideale einer sozialistischen Perspektive in sich trug und
damit auch Maßgaben geistiger Herausforderung, die bald die historische Wende
in Deutschland zur persönlichen Entscheidung jedes einzelnen Künstlers machen
würden.
Vorerst war die «Schaubühne als moralische Anstalt»,
Schillers Postulat für das Theater, eine allgemeine Basis, von der aus das
deutsche Publikum über Faschismus und Krieg aufgeklärt und die deutsche Klassik
neu erschlossen werden konnte. «Wir wollen keine Festspiele», erklärte der
antifaschistische Dramatiker Günther Weisenborn, «keinen Bayreuther Kothurn,
kein absichtsloses Rokoko, wir ziehen die "moralische Anstalt" vor,
die große Form der Debatte. Unsere Bühne... ist ein Kampfinstitut... Das
Theater lehrt uns die Erfahrung, daß die Hände der Masse von den Köpfen
dirigiert werden, und die Köpfe der Masse gilt es anderen Sinnes werden zu
lassen. Das Theater war stets ein Umformer seit den Tagen der Neuberin, und das
Theater soll umformen und verbessern; das ist sein
geschichtlicher Auftrag!» (6.7)
Am Deutschen Theater sammelten sich ehemalige Angehörige
des alten Ensembles: Gerda Müller, Kurt Fischer, Bruno Hübner, Max Gülstorff,
Robert Taube; und Schauspieler des völlig zerstörten Staatstheaters
(Schauspielhaus): Elsa Wagner, Paul Bildt, Walter Franck, Aribert Wäscher und
Gustaf Gründgens. Eduard von Winterstein, lange Zeit bei Reinhardt, kam vom
zerstörten Schiller-Theater. Gerhard Bienert kehrte zurück. Heinrich Greif und
Gustav von Wangenheim, (6.8) der neue Intendant, kamen
aus der Emigration.
Gerda Müller
Nach Aufführungen von Friedrich Schillers «Parasit»
(Premiere am 26. Juni 1945) (6.9) und von Thornton
Wilders «Unsere kleine Stadt» (Premiere am 3. August 1945) wurde das Deutsche
Theater am 7. September 1945 mit Lessings «Nathan dem Weisen» (Regie: Fritz
Wisten, Mitarbeit Willi Schmidt und Gerda Müller) offiziell wiedereröffnet. Ein
denkwürdiger Tag, in die Geschichte eingegangen als Tag der Neugeburt
humanistischen Theaters in Berlin.
Noch vorher, am 15. August 1945,
hatte Karlheinz Martin (6.10) mit Brechts
«Dreigroschenoper» das ehemalige Hebbel-Theater neu eröffnet, dem er 1946 eine
Schauspielschule (6.11) anschloß. Er brachte an seinem
Theater die deutsche Erstaufführung von Friedrich Wolfs «Professor Mamlock»,
die Uraufführung von Günther Weisenborns «Illegalen», die Uraufführung von Georg
Kaisers «Soldat Tanaka» und eine Inszenierung der «Gewehre der Frau Carrar» von
Bertolt Brecht. Mit dem zu frühen Tod des engagierten Künstlers Karlheinz
Martin im Jahre 1948 endete die antifaschistisch-demokratische Spielplanpolitik
dieses Hauses. Das Theater am Schiffbauerdamm — ehemals Reinhardts Neues
Theater, ab 1954 Domizil des Berliner Ensembles — eröffnete Fritz Wisten (6.12) im September 1946 mit Alexander Afinogenows
«Maschenka». An diesem Theater inszenierte Ernst Busch 1947 «Die Matrosen von
Cattaro» von Friedrich Wolf und spielte die Hauptrolle.
Berlin - zerstört zwar, doch nicht tot, sondern erwachend
und heraustretend aus dem Chaos — ging allererste, wenn auch noch unsichere,
aber hoffnungsvolle neue Schritte hin zu einer Theaterstadt. Die Hoffnung wurde
genährt durch die neuen Begabungen, die zum Theater drängten. «Wenn innerhalb
weniger Wochen», schrieb Herbert Jhering, «an einem einzigen Berliner Theater,
dem Deutschen, vier Anfänger sich melden, deren persönliches und geistiges
Schicksal sich in allem abhebt von dem einer früheren Generation, wenn diese
andere Erlebniswelt, die wir privat nicht kennen, beim Vorsprechen durch jede
ihrer Äußerungen schlägt, und wir bei denen, die schon einen spärlichen Unterricht
genossen haben, ebenso wie bei denen, die noch durch keine Schauspielschule
gegangen sind, einen ganz anderen Ernst, eine ganz andere Einfachheit, eine
ganz andere Sammlung bemerken, als wir sie selbst bei den stärksten und
innerlichsten Talenten früher spürten, so kann das nicht Zufall sein. Diese
Neunzehn- und Zwanzigjährigen wirken reifer und härter, weil sie jede
Oberflächlichkeit von sich getan haben... unter dem schauspielerischen
Nachwuchs gibt es ein bildungsfähiges Material, dem der
Phrasenverschleiß der letzten zwölf Jahre und das Gift der Propaganda nicht
mehr im Blute sitzen, dem die innere Auflehnung gegen das, was war, nur ins
Bewusstsein gehoben zu werden braucht, um am Wiederaufbau des deutschen
Theaters entscheidend mitwirken zu können.» (6.13)
Anmerkungen:
6.1 Wilhelm Pieck, Reden und Aufsätze, Bd. l, Berlin 1954, S. 423f
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6.2 Berliner
Zeitung, 21. Mai 1945 Zurück zum Text
6.3 Fritz Erpenbeck, Im Anfang war das Chaos, in: Theaterstadt Berlin, hrsg. v. Herbert Jhering, Berlin 1948,5.43
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6.4 Vgl.
Gespräch m. Armin-Gerd Kuckhoff v. 15.7.1985, HS-Archiv, Tonb.-Aufz.
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6.5 Bertolt
Brecht, Rede auf d. gesamtdeutschen Kulturkongreß in Leipzig, Mai 1951, in:
Theaterarbeit, Dresden 1952, S. 7 Zurück zum Text
6.6 Herbert Jhering, Berliner Dramaturgie,
Berlin 1948, S. 25 Zurück zum Text
6.7 Günther Weisenborn, Die Aufgaben
des neuen Theaters, in: Tägliche
Rundschau, Berlin, 30. August 1945 Zurück zum Text
6.8 Gustav von Wangenheim (1895-1975), Sohn
Eduard von Wintersteins, Schauspieler, Regisseur, Dramatiker, künstlerischer
Leiter d. Arbeiter-Theater-Bundes, Gründer des Theaterkollektivs «Truppe 1931», 1933-1945 Exil in der Sowjetunion.
6.9 Eine Inszenierung, die in der Besetzung Walter Franck, Elsa Wagner, Aribert Wäscher, Paul Bildt, Wilhelm
Krüger und Horst Lommer noch am Staatstheater unter Gustaf Gründgens herausgekommen war; was Autor, Thema und Titel betrifft durchaus als Absage an das Naziregime deutbar. Vgl. Alfred Müller, Großes Theater,
Berlin 1950, S. 244
6.10 Karlheinz
Martin (1888-1948). Herbert Jhering: «Karl Heinz Martin war vor allem Regisseur, Inszenator. Er zog die Stücke auf, ein glänzender Arrangeur, ein Fanatiker der Stellungen, der Wirkungen,
der Auffassungen. Er ging nicht vom Wort aus, nicht vom Schauspieler, sondern
von den Kontrasten der Situation. Er spielte weniger die Sätze als die Interpunktion, weniger den geistigen oder
gefühlsmäßigen Inhalt als seine
Akzente. Behauptungen wurden bei ihm zu Ausrufen. Das Ja und das Nein kamen
stärker heraus als das, was bejaht oder
verneint wurde. So war Karl Heinz Martin der Bahnbrecher des szenischen Expressionismus.» In: Dramaturgische Blätter, 2. Jg., Berlin
1948, Heft 2, S. 59 Zurück
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6.11 Leiter der
Schauspielschule des Hebbel-Theaters von 1946 bis 1948
war Ernst Schröder. Er publizierte seine
Erfahrungen an dieser Schule unter dem Titel «Die Besessenen», Berlin 1948
6.12 Fritz Wisten
(1890-1962), Schauspieler, von 1933-1941 Regisseur am Theater des Jüdischen Kulturbundes Berlin, 1941 bis 1945 Verfolgung und Haft, 1946 - 1954 Intendant des
Theaters am Schiffbauerdamm, 1954 bis 1962
Intendant der Berliner Volksbühne. Zurück zum Text
6.13 Herbert Jhering, Berliner Dramaturgie,
a.a.O., S. 26; Gustav von Wangenheim
engagierte als Intendant des Deutschen
Theaters unmittelbar nach Kriegsende eine Gruppe junger, noch auszubildender Schauspieler. Zu dieser Gruppe gehörten Traute Bendach, Horst Drinda, Alfred Cogho und Angelika Hurwicz. Zurück zum Text
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