Theater ohne Heiner Müller

 

 

 

Obwohl das bürgerliche Feuilleton Heiner Müller über Dezennien als DDR-Dissidenten gefeiert hat - und Gründe hatte es genügend -, zum Apologeten der kapitalistischen Gesellschaft wird es ihn nicht erklären können. Man versucht es wohl auch gar nicht erst. Schon jetzt, wenige Tage nach seinem Tode, zeichnet sich ab, daß er wegen seiner Haßliebe zur DDR distanziert als deren „Staatsdramatiker" behandelt wird. Woher dieser Sinneswandel?

Weil Müller nicht bereit war, sich als Wendehals einkaufen zu lassen. Gehässig wirft man ihm vor, er, „der D-Mark-Tantiemen-Millionär", habe in der Wiedervereinigung „nur höhnisch die Errichtung eines D-Mark-Landes" gesehen und „sich folgerichtig dem Konservierungsgeschäft" zugewandt. Nämlich: Er habe geholfen, das Berliner Ensemble „zu einer ästhetischen Erinnerungsstätte an die gute, graue DDR zu machen". Welch schlimmer Frevel! Jahr für Jahr bemüht sich die kapitalgewaltige Medien-Mafia, den Ossis ihre ehemalige Heimat gründlich zu verleiden, doch so ein „großer, schwarzer Clown und Pfau" wagt es, „das Brecht-Mausoleum am Schiffbauerdamm für die DDR-Nostalgie" zurückzuerobern.

Man kommt ins Grübeln. Ist das neuerdings schon DDR-Nostalgie, wenn im Berliner Ensemble Brecht gegeben wird, wenn ein polemischer „Arturo Ui" vor möglicherweise neu aufziehendem Faschismus warnt? Die Sache ist die: Es geht den Manipulatoren der öffentlichen Meinung gar nicht um irgendwelche sehnsuchtsvolle Rückwendung Müllers in die Vergangenheit. Sie wissen nur zu gut, wie vehement er Stillstand ablehnte und wie bewußt er die Konflikte der Epoche suchte. Nein. Sie finden sich gestört von seiner radikalen Art, die Zeit auf die Bühne zu holen. Da hatte sich das endlich gesamtdeutsche Theater so brav kapitalkonformistisch in die Sessel gelehnt, hatte Sex und Crime zu den Hauptsorgen der Nation erklärt, da gab ausgerechnet der ehemalige „Staatsdramatiker" nicht Ruhe und legte den Finger wie ehedem auf soziale Wunden. Das war unangenehm. Und damit niemand sich erkühnt, ihm nachzueifern, wird sein Tun vorsorglich als DDR-Nostalgie verunglimpft.

Das deutsche Theater ohne Heiner Müller. Wer macht es nach ihm zum Ort öffentlichen Widerspruches?

 

 

Neues Deutschland, 5. Januar 1996