Abschied vom
Berliner Ensemble
Theater als Offenbarung
Vergangene Woche fiel im Theater am Schiffbauerdamm der
Vorhang zum vorerst letzten Mal. Der Umbau der Bühne für Claus Peymann, dem
neuen Souverän, beginnt. Wird Picassos Friedenstaube je wieder zu sehen sein?
Oder die berühmte Brecht-Gardine, die ohnehin kaum noch Verwendung gefunden
hatte? Eine große deutsche Theater-Ära endet unwiderruflich.
Dies festzustellen fällt einem schwer, der das BE seit
1951 als treuer Zuschauer begleitete. Zu gut in Erinnerung sind die
weltberühmten Aufführungen. Der Aufschrei gegen den Krieg mit Brechts »Mutter
Courage und ihre Kinder«. Die Anklage gegen den Faschismus mit »Der aufhaltsame
Aufstieg des Arturo Ui«. Die Hoffnung auf eine humane Welt mit Brechts »Die
Mutter«? Was davon ist virtuell geblieben in deutschen Landen? Ich scheue die
Antwort, erst recht angesichts der barbarischen NATO-Bombardements.
Bertolt Brecht, Helene Weigel, Ernst Busch, Erich Engel,
Paul Dessau, Hanns Eisler, Caspar Neher, Karl von Appen, Erwin Geschonneck,
Angelika Hurwicz, Gerhard Bienert, Ekkehard Schall, Wolf Kaiser, Raimund Schelcher
und all die anderen treuen Mitstreiter des BE im Osten Berlins einte und
mobilisierte nach 1945 der fast heilige Schwur: Nie wieder Krieg! Nie wieder
Faschismus! Das 1949 gegründete Berliner Ensemble war ihnen willkommenes
Instrument, humanistischer Sehnsucht künstlerischen Ausdruck zu geben.
Zuversichtlich stellten sie sich der erbarmungslosen Alternative des
Jahrhunderts: Sozialismus oder Barbarei.
Brecht wußte sehr wohl, welch schlimme Gebrechen, ja
Verbrechen die Sowjetunion belasteten, doch er wußte ebenfalls sehr wohl, daß
auch die Bürgerklasse ihr Regiment nicht ohne Greuel angetreten hatte. Für den
genialen Künstler, der seine ganz eigenen Erfahrungen aus den USA mitgebracht
hatte, war es daher selbstverständlich, am Aufbruch der ostdeutschen Region in
eine wenn auch ungewisse, so doch auf jeden Fall neue Zeit teilzunehmen. Ein
Weg schien gefunden von der sozialen Utopie zur Wirklichkeit. Und obwohl der
Theaterkunst dabei nur eine sehr bescheidene Rolle zukommen konnte, formierte
der Dichter sein Ensemble im aufziehenden kalten Krieg bewußt als einen
kritisch-produktiven Partner des jungen Staates DDR.
»Wie die Umgestaltung der Natur, so ist die Umgestaltung der
Gesellschaft ein Befreiungsakt, und es sind die Freuden der Befreiung, welche
das Theater eines wissenschaftlichen Zeitalters vermitteln sollte.« Aus dieser
grundsätzlichen Überzeugung Brechts erwuchs die neuartige ästhetische
Faszination seines epischdialektischen Theaters, entfaltete sich dessen
stilistisch einmalige, die Wirklichkeit verfremdende karge und zugleich reiche
Poesie. Angetreten durchaus mit didaktischen Zielen im Sinne der Aufklärung der
Arbeiterklasse und zugleich sich bekennend zu deren Unterhaltung, entwickelte sich das Berliner
Ensemble zur führenden deutschen Bühne.
Brechts
»Herr Puntila und sein Knecht Matti« zum Beispiel (1949 mit Leonard Steckel und
Erwin Geschonneck in der Regie von Brecht/Engel) unterhielt auf neue Weise und
öffnete besser als Lehrbücher und Vorträge die Augen für Widersprüche zwischen
Ausbeuter und Ausgebeuteten. Theater als Offenbarung, wunderbarer Ort des
Erkenntnisgewinns durch Vergnügen.
Auf Gastspielen
trug das Ensemble seine Botschaft nach Europa. Helene Weigel feierte Triumphe
als Mutter Courage, Ernst Busch bewegte als Galilei. Ein seltener Glücksfall
war gegeben von anregender Korrespondenz eines Theaters mit der Sozietät, auf
deren Boden es wirkte. Doch je problematischer sich die Umgestaltung der
Gesellschaft erwies, desto komplizierter wurde das Verhältnis des Theaters zur
Politik. Mit Brechts frühem Tod 1956 hatte zudem die Natur eine Zäsur gesetzt.
Noch
aber blieb unter der Intendanz von Helene Weigel die Kompetenz des Berliner
Ensembles für sozial realistisches Theater unbestritten. Hinreißend Erich
Engels »Dreigroschenoper« mit Regine Lutz, Elsa Grube-Deister, Wolf Kaiser und
Norbert Christian. Erregend Benno Bessons »Guter Mensch von Sezuan« mit Käthe
Reichel. Unvergessen Joachim Tenscherts und Manfred Wekwerths heiter gelassene
Inszenierung der »Tage der Commune« mit Gisela May, Angelica Domröse, Wolf
Kaiser, Hilmar Thate, Manfred Karge, Dieter Knaup und Martin Flörchinger.
Der
Verzicht auf das Ringen um die deutsche Einheit und wirtschaftlicher Krebsgang
bestimmten zunehmend das politische Klima im Lande. Vor allem Defizite an
Demokratie begannen, die Übereinstimmung zwischen Politik und Theater
auszuhöhlen. Kritisch-produktive Partnerschaft funktionierte nicht mehr,
skeptisches Abwägen war angesagt, sogar Distanz. Ruth Berghaus, Chefin des
Ensembles nach Helene Weigels Tod 1971, signalisierte mit ihrer
»Mutter-Inszenierung auf einer Müllhalde erstmals offen Zweifel. B.K. Tragelehn
und Einar Schleef kündigten 1975 mit ihrer exzessiven Inszenierung »Fräulein
Julie« von Strindberg (mit Jutta Hoffmann und Jürgen Holtz) ganz offen den
Konsens. Schon damals war das BE in seinem ursprünglichen Wesen eigentlich tot.
Nicht weil ästhetische Mittel unbrauchbar geworden waren, sondern weil Künstler
das Bild vom Menschen, das Brecht mitentworfen hatte und das von der Politik
nach wie vor gewünscht wurde, nicht mehr bedienen wollten.
Das
Dilemma konnte selbst der Brechterfahrene, profilprägende Manfred Wekwerth
nicht kompensieren, der das Theater seit 1977 leitete. Er brachte 1985 mit
Joachim Tenschert Shakespeares »Troilus und Cressida« (mit Corinna Harfouch und
Martin Seifert) als Plädoyer für Vernunft gegen Krieg und 1987 ebenfalls mit
Joachim Tenschert Brechts »Fatzer«-Fragment in der Bearbeitung von Heiner
Müller (mit Ekkehard Schall) als Hommage an einen Kriegsverweigerer. Wekwerth
verbündete sich mit den Dichtern Heiner Müller (»Germania Tod in Berlin« 1989)
und Volker Braun (»Lenins Tod« 1989), erweiterte den Spielplan und holte neue
Darsteller. Er suchte einen Kompromiss zwischen Tradition und Neuerung und
formte eine homogene Truppe, die die dialektische Spielweise sorgfältig
pflegte. Nach der Wende war er nicht mehr genehm.
Immerhin hatte
das Berliner Ensemble so viele Fürsprecher, daß die neue Obrigkeit nicht wagte,
das Theater anzutasten. Matthias Langhoff, Fritz Marquardt, Heiner Müller,
Peter Palitzsch und Peter Zadek engagierten sich als künstlerische Leiter. Doch
sie fanden nicht zu gemeinsamem Tun. Als Zadek 1993 eine schlichte
Interpretation von Brechts »Der Jasager und der Neinsager« anbot, diffamierte
ihn die konservative Presse. Erst als Heiner Müller schließlich allein die
Leitung innehatte und sich mutig konformistischer Einvernahme widersetzte, kam
noch einmal Hoffnung auf. Sein »Ui« mit Martin Wuttke in der Titelrolle
erinnerte an große Zeiten des Berliner Ensembles. Gewinn brachte Urgestein
deutschen Theaters: Marianne Hoppe und Bernhard Minetti übernahmen Rollen.
Tragisch 1995 der frühe Tod Müllers.
Den vakanten Leitungsposten besetzte kühn Martin Wuttke, der erfolgreiche Ui-Darsteller, und geriet unerwartet in Behörden-Querelen. Stephan Suschke, dem nun die Leitung des Ensembles zufiel, gab sich a priori keinen Illusionen hin. Das Theater war inzwischen ein hauptstädtisches unter vielen, mit allerdings nach wie vor hohem künstlerischen Niveau versierter Schauspieler wie Annemone Haase, Veit Schubert, Hermann Beyer, Martin Seifert oder Götz Schulte. West-Star Gert Voss suchte alsbald das Weite, Eva Mattes verweilte länger, Volker Spengler hielt aus.
Das
lange Sterben des Ensembles hatte einerseits frustriert, andererseits
zusammengeschweißt. Regisseure wie Einar Schleef oder Robert Wilson
zertrümmerten mit ihren Inszenierungen Tradition, B.K. Tragelehn knüpfte an
(mit Josef Bierbichler als Galilei). Suschke gelang mit Müllers »Bauern« eine
Aufführung, die mit ihrer unprätentiösen Ehrlichkeit überzeugte, auch Klaus
Emmerich erwies sich mit Brechts »Maßnahme« und »Die Rundköpfe und die
Spitzköpfe« als ein Regisseur, der Brechts methodisches Rüstzeug, klug
verfremdendes Spiel, frisch und unmittelbar zu gebrauchen weiß.
Aus
indessen ist es endgültig mit Illusionen über das BE. Die Geschichte hat dessen
einst aufbauende Funktion ad acta gelegt, wie sie ja im übrigen auch die
Jahrtausend-Alternative auf ihre Weise beantwortet hat. Mithin:
Produktiv-kritischer Konsens dieses deutschen Theaters mit der Gesellschaft ist
nicht mehr möglich, nach 50 Jahren ist der hochfliegende Versuch als beendet zu
betrachten.
„Neues
Deutschland“ vom 4. Mai 1999