„Die Baugrube“ von Lothar Trolle im Berliner Ensemble, Regie Armin Petras

 

 

 

 

Was eine Blinde berichtet

 

Eine blinde Erzählerin (Chri­stin König) sitzt an einem Pult und operiert bedächtig als Diskjockey. Meist jedoch fin­gert sie Schrift und buchsta­biert den Text, den man ihr unterschob. Ein ahnungslos freundliches Märchenfräulein berichtet temperiert elegisch über eine im Orkus versunkene Zeit. Auf der Bühne wird's mit gewollt clowneskem Spiel und epischer Rede illustriert, an­fangs geschickt ergänzt durch frappierende Video-Einblendungen. Ein theatraler Comicstrip zwischen Parodie, Kari­katur und Klamotte.

Vier Tage nach der Urauf­führung am Kleist Theater Frankfurt/Oder hatte die Gemeinschaftsproduktion am Berliner Ensemble Premiere: Armin Petras’ In-Szene-Setzung der Erzählung „die baugrube" von Lothar Trolle nach dem Roman von Andrei Platonow (1899-1951).

Baugruben. Welcher Berli­ner kennt sie nicht. Einst das große Loch für den Palast der Republik. Oder die Schlünde für Bauten an der Friedrich­straße, damals und jüngst. Noch kürzlich die Kuhle für Mercedes am Potsdamer Platz. Manchmal gibt's Ärger. Risse im ehemaligen Regierungs­krankenhaus beispielsweise wegen Schluderarbeit neben­an. Bei Platonow/Trolle geht's um ein ganzes Gesellschafts­system, symbolisch ins Bild ge­nommen als vielstöckiges, hell­strahlendes Wohngemein­schaftsgebäude „Sozialismus", für dessen Errichtung eine Baugrube gebraucht wird.

Folgt man den Hinweisen, die der Presse vor der Vorstel­lung in die Hand gedrückt wur­den, zeigt Trolle nicht die Tra­gödie, als die Platonow 1930 „die Kollektivierung in der UdSSR erfährt", sondern die Komödie. Nämlich „als Komik der utopischen Anstrengung überhaupt, der sympathischen Form von Idiotismus, der Igno­ranz gegenüber den Anforderungen der wirklichen Welt – bei aller Rücksicht auf unmit­telbare Dringlichkeit der Wün­sche und die Unerträglichkeit der Zustände - Komik auch des harten Aufeinandertreffens von Glücksanspruch und Ver­nichtung des Glücksan­spruchs... So begegnen wir den von Lothar Trolle verdichteten Text-Resten Platonows als Bruchstücken eines Märchens und/oder Zitaten eines ethno­logischen Berichts, Nähe und Ferne, Vertrautes und Verlo­renes vereinend: Märchen der eigenen Geschichte, Ethnologie des Eigenen (Lebens)."

Eine derartige Fülle ideolo­gischen Ballastes wußte die Re­gie noch zu keiner Zeit rundum zu bedienen. Zumal, wenn - wie hier - der Text kein Stück ist, mit dem herkömmliches Theater in Gang gebracht wer­den könnte. Der Autor von „Pa­pa und Mama" (1978 Krefeld), „34 Sätze über eine Frau" (1985 Gera) und „Hermes in der Stadt" (1992 Berlin) ver­sucht, ein „Drama ohne Kon­flikt" zu kreieren. Penibel for­muliert er ohne Punkt und Komma keinen Dialog, son­dern einen Gedankenband­wurm von zu neunzig Prozent Regieanweisungen, um, wie er hofft, „das Theater zu verän­dern", damit man „auf ihm die Gegenwart wiedererkennt".

Kühn der Regisseur, der sich solcher Vorlage annimmt. Ich bestätige dem jungen Armin Petras gern, daß er viel Phan­tasie investiert, um Trolles nachdenklich-putzige Spielwelt zu etablieren. Mit dem Vorstellen des Modells des „proletarischen Gemeinschaftshauses" durch den In­genieur Purschewski (Martin Seifert) gelingt ihm fast eine Exposition. Die Erdarbeiter läßt er als Clowns agieren. Wostschew (Axel Werner), der
Arbeitslose, der beim Bau lan­det, beteiligt sich alsbald nicht mehr an den „irrsinnigen Vorgängen". Die Bauern der Ge­gend, als zwergige Lemuren vorgeführt, denen man übel
mitspielt, verweigern sich. Und aller Hoffnung auf die Zukunft, das Kind Nastja (Sarah Seitz), vom Arbeiter Tschiklin (Nino Sandow) zunächst gerettet, stirbt. Doch was anfangs durchaus Neugier erweckt, versinkt spätestens nach der Pause in rätselhaften Allego­rien.

Die von Trolle gemeinte „Fortsetzung der Geschichte vom Turmbau zu Babel", das

Scheitern eines heroisch-gro­tesken Projektes gegen menschliche Vereinzelung, ist objektiv von unsäglicher Tragikomik. Hybris menschlichen Handelns ist ja keine sowjeti­sche Erfindung. Der Autor ver­spottet den historischen Ver­such denn auch nicht pauschal. Aber ästhetisch läßt er Häme zu, statt Mitgefühl einzufor­dern. Und politisch wird er zum Seiltänzer. Er deklariert, man könne nicht ewig stehen bleiben zwischen Kommunis­mus und Kapitalismus, zumal dem Proletariat zwar nicht die Wahrheit zustehe, aber die Be­wegung. Wozu der Regie leider nur Kinderei einfällt. Beim Sin­ken des Eisernen joggen Wostschew und Safronow flott und ausdauernd über die Bühne...

 

 

Neues Deutschland, 6. / 7. April 1996