„Barbaren“ von Maxim Gorki am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Albert Hetterle

 

 

 

 

Sittenbild einer Kleinbürgerwelt

 

Im Maxim Gorki Theater Berlin ist über die Jahre ein in den künstlerischen Absichten und Taten homogenes und ausdrucksfähiges Ensemble gewachsen. Intendant und Regisseur Albert Hetterle hat mit kontinuierlicher Arbeit ein hochsensibles „Instrument" entwickelt. Mit seiner Inszenierung der „Barbaren" von Maxim Gorki nutzt er es zur Vermittlung eines Werkes des Dichters, dessen Namen das Theater trägt. Zwar gibt es graduelle Unterschiede bei den Darstellern, insbesondere bei den Neulingen, aber diese Aufführung lebt als eine dichte Ensembleleistung.

Sensitive, identifizierende Schauspielkunst ist erste und unverzichtbare Voraussetzung für Gorki. In diesem 1906 uraufgeführten Schauspiel vereint er seine ursprünglich-romantische, die Menschen liebende Lebenssicht mit der feinsinnigen psychologischen Charakterisierungskunst eines Tschechow.

Obenhin betrachtet, spielt sich, leicht theatralisiert und nicht ohne Komik, ein Männergerangel ab um die Kreisstadt-Schönheit Nadeshda, die Frau des Steueraufsehers Monachow. Wegen eines zurückgenommenen Kusses Tscherkuns, des Mannes ihrer Sehnsucht, macht die Stolze schließlich ihrem Leben ein Ende. Wesentlicheres passiert nicht in dem Stück, man kommt und geht, meist unmotiviert.

Aber das anhaltende, eigentlich beziehungsarme Belauern und Beobachten, Annähern und Trennen der Bewohner dieser muffigen Kleinstadt ergibt ein anschaulich-kritisches Sittenbild vom feudalen Rußland um die Jahrhundertwende.

Ingenieure sind gekommen wegen des Baus einer Eisenbahnlinie. Sie bringen Unruhe mit. Arrogant urteilen sie über die „Barbaren", die hinterwäldlerischen Einwohner des Städtchens. Doch sie selbst gehen auch nicht humaner miteinander um.

Insbesondere Ingenieur Tscherkun quält seine junge Frau Anna, hat keinen Sinn für das liebenswerte empfindsame Geschöpf an seiner Seite. Jenny Gröllmann gibt die Anna sehr reif, äußerst nervig, von inniger, duldsam-verstörter Leidenschaft. Hansjürgen Hürrig als ihr Mann ist von raunziger, brüsker Stumpfheit, ein aufgeklärter Praktiker, der mehr aus Eigenliebe denn aus Gerechtigkeitssinn Wassili Redosubow attackiert, den bornierten Bürgermeister des Ortes (Jochen Thomas).

Tscherkun tändelt mit den Frauen zum Zeitvertreib. Lidija Pawlowna, von Ruth Reinecke souverän als klug-charmante Frau gespielt, ist die eine, Nadeshda ist die andere. In dieser Rolle macht Nicole Haase zwar durchweg gute Figur, doch scheint sie mir von der Regie zu kühl, zu abgeklärt angelegt.

In der Rolle von Ehemann Monachow, der hoffnungslos-ergeben in seine ihn ablehnende Frau verliebt ist: Uwe Kockisch. Ingenieur Zyganow (Klaus Manchen) versucht sich bei der Umworbenen vergebens mit der lässigen Routine des Erfahrenen. Und Doktor Makarow brennt in ehrlich-einfältiger, unerfüllter Leidenschaft. Hilmar Baumann spielt ihn als einen schlumpigen, in seinen rundlich-schnuddligen Habitus regelrecht verkrochenen armseligen, zerbrochenen Mann. Die adlige Hausbesitzerin Bogajewskaja verkörpert Monika Hetterle.

Unberührt von all den Querelen ist der junge, dick-behäbige, von Vater Redosubow zum Naivling getrimmte Grischa, vorzüglich dargestellt von Wolfgang Hosfeld. Dann die jungen Leute: die herzhaft-agile Katja (Gundula Köster), die sich für Anna einsetzt, und der Student Lukin (Götz Schubert), der einen flüchtigen Hauch Zukunft verkörpert.

Regisseur Albert Hetterle, erfahren im Umgang mit Gorki, zwingt der Herbheit des „Bitteren" keine zusätzliche Bitternis auf. Das mag ungewollt das Melancholische des Schlusses befördern. Die Inszenierung, moderat gehalten, hat zahlreiche schöne, Menschliches erzählende Details, wobei das plastisch ausgeleuchtete Bühnenbild (Beleuchtung: Jürgen Hoffmann/Bernd Kühne) von Henning Schaller in seiner strengen, ausgewogenen Einfachheit behutsam Distanz schafft.

 

 

Neues Deutschland, 6. Oktober 1987