„Baal“ von Bertolt Brecht am
Hans-Otto-Theater Potsdam, Regie Bernd Weißig
Ein Stück, dessen Fabel nicht klein zu kriegen ist
In Reihe dreizehn, Parkett rechts außen, sitzt Bertolt Brecht als lebensgroße Puppe und schaut auf Bühnenfiguren, die sich gleichsam wie ein Wachsfigurenkabinett präsentieren. Es sind die Gestalten seines Erstlings „Baal" aus dem Jahre 1918, inszeniert von Bernd Weißig am Hans-Otto-Theater Potsdam. Hätte der Dichter dem jungen Ensemble applaudieren können, ich bin gewiß, er hätte es getan.
Denn: Der erste Eindruck des „Wächsernen"
verflüchtigt sich rasch. Menschen aus Fleisch und Blut agieren, die freilich
klar als Kunstfiguren ausgewiesen sind. Man blieb bar des Versuchs, sie mit
psychologischen Motivationen zu versehen. Für Werktreue sorgt neben der Regie
auch die Szenerie Frank Hänigs. Er baute eine symbolistische Stilbühne, auf der
Baals Sich-Herauslösen aus der Gesellschaft komprimiert ins Bild gesetzt werden
kann. Wobei Regisseur und Ausstatter die Gesellschaft vor allem mit ihren technischen
Merkmalen kennzeichnen, sie mit Metall, Folie und Neonlicht in eckigen und
runden Konstruktionen sinnfällig machen wollen.
Bernd Weißig geht von Brechts Fassung des
Stücks aus dem Jahre 1926 aus. Er sieht in Baal einen asozialen, sich der
Arbeit entziehenden Automonteur und nicht den scheiternden Liedermacher. Die
Lieder werden denn auch nur nebenher, wenngleich mit schöner Sorgfalt
eingebracht.
Weißig führt einen Aussteiger aus einer
Gesellschaft vor, die dem Idol des Technikfortschritts halt- und kritiklos
verfallen scheint. Baal wird als ein Mensch genommen, der sich dem „Technikmoloch
Großstadt" verweigert und sich in der Natur „tummelt". Diese
Konzeption hat dort Fragewürdiges, wo sie das Stück zu einer rationalen und
emotionalen Aufforderung an den Zuschauer stilisiert, „sich all seine Prognosen
nicht zu verwirklichen" (Programmheft), sich also seine Bedürfnisse zu
versagen. Das gerät unversehens zur ästhetischen Predigt einer
Fortschrittsfeindlichkeit, die am sozialen Wesen des Menschen vorbeigeht.
Glücklicherweise hat die Fabel des Stückes —
unabhängig von allen Frachten, mit der man sie belastet — ihre eigene substantielle
Spannkraft. In Potsdam ist als Baal ein junger Mann zu sehen (Michael Walke) —
feist, mit Glatze, Nickelbrille sowie Schal und Jackett über nacktem Oberkörper.
Er erscheint mitunter wie ein mäßig wild gewordener kleiner Beamter, der
triebhaft-lässig hinter den Weibern her ist. Bei Sophie aus wohlhabendem Hause
gerät er dann an eine Frau, die ihn so betrifft, daß er um ihretwillen einen
Mord begeht.
Diesen zentralen Fabelpunkt, wenn Baal in für
ihn selbst unerwarteter, leidenschaftlicher Aufwallung auf seinen Freund Eckart
losgeht, spielt Michael Walke sehr genau. Er gibt sich rüde und roh, als sei er
selbst über die tiefste menschliche Empfindung, die Liebe, erhaben. Und doch
überfällt ihn urplötzlich Eifersucht, stößt er rasend zu. Es stellt sich
heraus: Der soziale Impetus des Menschlichen ist vitaler als der willkürliche
Versuch subjektiver Verweigerung.
An dieser Stelle kommt in Erinnerung, daß der
junge Brecht sein Stück am Ende des ersten Weltkrieges schrieb. Es war offenkundig
auch als Aufschrei gegen das Völkermorden gemeint, als Appell an das Leben und
Verweis auf die Urkraft menschlicher Liebe.
Das ästhetische Format der Aufführung wird
bestimmt von Michael Walke und Eva Weißenborn (als Emilie manchmal zu singend
in der Sprechweise) sowie von jungen Darstellern: Anette Sträube als Sophie,
Sabine Unger als Johanna, Torsten Michaelis als Eckart und Marten Sand als
Mäch. Auf diese junge Truppe sollten wir neugierig bleiben.
Neues
Deutschland, 22. Juli 1988