„Baal“ von Bertolt Brecht am Berliner Ensemble, Regie Alejandro Quintana

 

 

 

Die schockierende Mär vom Leben, Lieben und Sterben des Poeten Baal

 

Bertolt Brechts bevorstehender 90. Geburtstag am 10. Februar 1980 macht eine solche „Ausgrabung“ möglich: die Komödie „Baal", des Dichters Erstling aus dem Jahre 1918, umgearbeitet mehrfach, 1923 zur Uraufführung in Leipzig mit Beifall und Empörung aufgenommen (vom Oberbürgermeister abgesetzt), 1926 in Berlin am Deutschen Theater erneut skandalumwittert, lange Zeit für nicht mehr spielbar gehalten. Jetzt fand die arge Komödie im Berliner Ensemble in der Regie von Alejandro Quintana mit starkem Beifall wie mit einigen Buhrufen bedacht eine beachtliche Wiederbelebung.

Ungestüm hatte Brecht dem expressionistisch-idealistischen Grabbe-Drama „Der Einsame" von Hanns Johst seinen „Baal" entgegengesetzt. „Da kommt ein Hamster drin vor, ein ungeheurer Genüßling, ein Kloß, der am Himmel Fettflecken hinterläßt, ein maitoller Bursche mit unsterblichen Gedärmen!" (Brecht).

Baal — das heißt Herr oder Inhaber einer Sache und war einst die Bezeichnung männlicher Lokalgottheiten. Brechts Figur macht ihrem Namen alle Ehre. Baal, der angehende Dichter, läßt sich vom Großkaufmann und Verleger Mech nicht vermarkten, verführt aber Emilie, dessen Frau. Und er nimmt Johanna, die Braut seines Freundes Johannes. Beide Frauen läßt er alsbald fallen. Gelegentlich dichtet er, tapfer dem Alkohol widerstehend. Von der Straße holt er sich das adrette Bürgermädchen Sophie. Er schwängert und verstößt sie. Dann hält er sich an seinen Freund Ekart, einen verhinderten Komponisten (Peter Bause). Kindlich-weich hängt Baal an der Mutter. Als sie tot ist, verliert er jeden Halt. Aus Eifersucht bringt er Ekart um. Ein Buch zu schreiben bleibt schöner Vorsatz. Baal verkommt und stirbt.

Diesen nackt Ichsüchtigen pries und geißelte Brecht mit bereits festem materialistisch-realistischem Zugriff. Eine superselbstbewußte Begabung, die sich von der bürgerlichen Gesellschaft nicht ausnehmen lassen will, weiß keinen anderen Weg, als auszusteigen und, gewollt wie ungewollt, abzusteigen ins Asoziale. Markante Stationen: großbürgerlicher Speisesalon, gutbürgerliches Gasthaus, Dorfschenke, Spitalschenke, Branntweinschenke, Bretterhütte bei den Holzfällern. Freilich: So deutlich die Etappen sind, das ins Auge springende üble Tun des rücksichtslosen Kerls und wohl auch die künstlerisch unausgegoren anmutende Form, der balladeske Bilderbogen überwuchern oft den substantiellen Kern des Stücks — auch diese Inszenierung vermochte das nicht vergessen zu machen.

Der Zwanzigjährige schrieb die vierundzwanzig Szenen während des ersten Weltkrieges. Als spontane Reaktion auf blutleere zeitgenössische junge Kunst beschwor er mit wilder Gebärde hemmungslose Sucht nach Leben, setzte sie dem Krieg entgegen. Brecht 1918: „Dieser Expressionismus ist furchtbar. Alles Gefühl für den schönen runden, oder prächtig ungeschlachten Leib welkt dahin wie die Hoffnung auf den Frieden."

Zwar warnte Brecht noch 1954: „Dem Stück fehlt Weisheit". Doch hier hatte ein Realist ins Leben gefaßt und Zipfel sozialer Wahrheit gepackt. Regisseur Quintana und sein Dramaturg Wolfgang Engler spürten sie auf. Ihre durchaus verdienstvolle literaturwissenschaftliche Gründlichkeit ließ ihnen freilich den offenbaren Abgesang des „Helden", den Teil nach der Pause, zu langwierig geraten. Wenn der Zuschauer längst seine Meinung gebildet hat, wälzt sich dieser Baal, der hier nicht wie in Brechts Fassung von 1954 bei den Holzfällern letzte Zuflucht sucht, auf der öden, rotierenden Drehscheibe, um uns schließlich noch mitzuteilen, daß er sich nicht für eine Ratte hält.

Wie auch immer, die hier aus der Stückversion von 1919 herausgezogene szenische Deutung wirkt weiter. Unbeirrt von der historisch-sozialen Konkretheit der Geschichte ausgehend, reißt die Inszenierung ein weites Assoziationsfeld auf: Chancen und Schwierigkeiten einer produktiven Integration des schöpferischen Künstlers in die Gesellschaft.

Ekkehard Schall folgte subtil den Intentionen der Regie. Sein Baal — schnauzbärtig und mit ständig ins Gesicht hängender Haarsträhne — ist ein melancholischer, in sich gekehrter Sänger und Lyriker von matter Kraft, nur im Zorn bissig. Offenbar skizziert und charakterisiert der Darsteller bewußt und behutsam einen jener Vertreter dieser uralten Künstlerzunft, die — von den Gauklern und Minnesängern bis zu den Liedermachern der Gegenwart — stets auch ihre Egozentriker hatte. Vorgeführt wird die schockierende Geschichte eines begabten, doch auch intoleranten Poeten, der sich auflehnt gegen seine Vermarktung, sich dann als Bürgerschreck gefällt und schließlich auch jene verrät, die Kunst wirklich brauchen. Er träumt vom schnellen Erfolg, hat nicht das Stehvermögen und die Geduld, hart an sich und am poetischen Gegenstand zu arbeiten. Schalls Baal in seinem maßlosen Individualismus hätte wahrscheinlich mit jeder Gesellschaft seine Probleme. Die erklärte Maxime, nur sich selbst verantwortlich zu sein, hebt ihn verallgemeinernd zur „Baal-Gottheit", macht ihn unfruchtbar für die reale Welt, entrückt ihn zum abstrakten Phantom, entzieht ihn jeder Identifikation.

Quintanas Intentionen werden unterstützt von Manfred Grunds Bühnenbild — schwarzer Rundhorizont mit schmalem, bis in den Zenit offenem Spalt im Hintergrund, den Blick freigebend auf den farblich hellen, sich wandelnden Himmel. Praktikable, funktionelle Bauten auf der Drehscheibe. Die Aufführung hat eine plastisch-reale Sinnlichkeit und eine gar nicht vordergründige, stille Komik. Schnelle Szenenwechsel versprechen einen dynamischen Rhythmus, aber in der zweiten Hälfte, wie gesagt, zieht sich's hin.

Die Mech-Gesellschaft — Angelika Waller als Emilie, Jürgen Watzke als Mech, Dieter Knaup als Dr. Piller — wird scharf karikiert, impertinente Wachsfiguren allesamt. Die Bürger in der Gaststube, gespielt von Michael Gerber, Peter Hladik, Klaus Hecke und Victor Deiß, sind deftig ironisiert. Sie haben die spießige Borniertheit selbstsicherer, aber feiger Kleinbürger. Auch das ist sehr präzis und sinnfällig gearbeitet.

Die Frauen: Carmen-Maja Antoni hat als Mutter eine entwaffnend reale Direktheit. Sie ist außerordentlich kräftig anwesend, eben die Mutter dieses Baal. An ihr kommt er nicht vorbei, ihr allein kann er sich nicht entziehen. Angelika Waller gibt die kapriziöse, liebesanfällige Emilie, Susann Thiede die unschuldige Johanna, Andrea Solter die verführte Sophie, ein aufblühendes und dahinwelkendes Weib.

Nicht zu überhören die zurückhaltend kommentierende und erzählende Musik Reiner Bredemeyers, zart, intim, unaufdringlich im Erfassen der Situationen, sehr diskret, sehr einfühlsam insbesondere bei den Songs. Ein Abend alles in allem, der Impulse gibt, der herausfordert, mit den Gedanken dazwischen zu kommen.

 

 

Neues Deutschland, 15. Dezember 1987