„Die Aula“ nach Hermann Kant am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Wolfram Krempel

 

 

 

Beschaulich im Roman geblättert

 

Das sind unverwechselbar hiesige Theatergestalten: die Studenten der ABF aus dem Stück „Die Aula" nach Hermann Kants gleichnamigen Roman. Ihnen nach Jahren wieder zu begegnen, ermöglicht das Maxim Gorki Theater mit seiner jüngsten Inszenierung.

Kants Romanhelden hatten 1968 in einer Spielfassung des Landestheaters Halle den Weg auf die Bühne gefunden. Ihr poetischer Reiz, ihre Lebenskraft hatten auch da fasziniert. Der Aufbruch junger Arbeiter und Bauern zur friedlichen Eroberung der Festung Wissenschaft war zu einem Musterbeispiel dialektischen Theaters geworden. Die neuen sozialen Beziehungen und die in sie verwobenen individuellen Entscheidungen bilden die Elemente dieses Szenen-Kaleidoskops, erzählt und kommentiert mit historischer Zuversicht, klug, ironisch, humorvoll. Dialektisch eben.

Robert Iswall zum Beispiel. Ein intelligenter Aufschneider zwar, der zudem seinen gutmütig-zuverlässigen Freund Trullesand, seinen Konkurrenten bei Vera, mit Rose verkuppeln läßt. Einst war Robert Elektrolehrling, kurze Zeit Soldat, Kriegsgefangener, Antifaschüler, ab 1949 Lernender an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF), dann Germanistikstudent, jetzt Journalist.

Dieser Robert Iswall arbeitet nun an einer ABF-Festrede. Über ihn erschließt sich das Geschehen vor allem jenen Zuschauern, welche heute für die Abkürzung ABF schon ein Wörterbuch brauchen. Die Dynamik unserer gesellschaftlichen Entwicklung, Ergebnis auch solcher historischer Errungenschaften wie beispielsweise der Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten, wäre ein brauchbarer Anreiz für heutigen Umgang mit dem Stück. Nicht beschaulicher, nostalgischer, gar resignativer Rückblick, sondern Bekenntnisse zum revolutionären Elan, eingefangen in Kants pointierten Dialogen, seiner geistvollen Sachlichkeit, seiner lapidaren Gründlichkeit, seinem souveränen Optimismus.

Zwar hat Uwe Kockischs Iswall manchen charakteristischen Zug der Romanfigur, ist ein intelligenter Denker und ein diskreter Angeber, ein besonnener, nur gelegentlich zu forsch in Revolution machender junger Mann in den frühen Jahren, ein durch Erfahrung gereifter Genosse dann. Aber — scheint mir — insgesamt ist er zu sehr auf sich bezogen, zu abgeklärt-grüblerisch, zu müd-sarkastisch. Wo ist der stürmende, drängende Charme dieses Mannes, sein trockener, überlegener Witz?

Das sind Fragen an die Regie. Wolfram Krempel stützt sich auf die Fassung von Halle, hat jedoch im zweiten Teil — in Annäherung an den Roman — merklich umgestellt. Nicht die berühmte Laudatio auf Jakob Filter, den ehemaligen Waldarbeiter, mit der seinerzeit die geschichtliche Dimension aufgerissen wurde, bildet den Schluß, sondern der ernüchternde Brief des ABF-Direktors Meilbaum. Wodurch bekanntlich Iswalls Rede überflüssig wird.

Vielleicht erschien der Regie die Laudatio für heutige Zuschauer zu didaktisch-hymnisch, zu ungebrochen pathetisch. Aber nun endet die Aufführung mit der Schimpfe auf Meibaum in unversehens subjektiv-kleinlicher Rhetorik. Im harmlos-biederen Zuschnitt freilich irgendwie dennoch passend zur gemütvoll romantisierenden Szenerie (Dieter Berge): freundlich heitere weiße Wölkchen am hellblauen Himmel, bunt-verspielt gemalte Prospekte.

Treuherzig-liebe Leute allesamt: der behäbig-brave Trullesand Wolfgang Hosfelds, der schmucke Riek Udo Schenks, der neckisch-naive Filter Michael Pans. Und der umgängliche Riebenlamm von Dieter Wien, der sonnig-redliche Dr. Völschow von Jochen Thomas. Die Vera Bilfert wird gespielt von Renate Reinecke, die Rose Paal von Nicole Haase. Reinhard Michalke schließlich strahlt als Kreissekretär Haiduck reine Idylle aus. Der Atem großer Zeit kommt nicht auf. Und unsere Zuneigung zu den Kantschen Aufbruch-Figuren? Sie bleibt dennoch bestehen.

 

 

 

Neues Deutschland, 15. Mai 1985