„Aufstand der Angestellten“ von Andreas Kriegenburg an
der Volksbühne Berlin, Regie Andreas Kriegenburg
Welch schauerliche Epoche ist da angebrochen
Nach einer halben Stunde schaute ich das erste Mal auf die Uhr. Auch später noch. Es blieb einfach Zeit dafür in diesem „Aufstand der Angestellten", einer „Szenenfolge mit Blasmusik" von Andreas Kriegenburg an der Berliner Volksbühne.
Als der Regisseur vor einem halben Jahr Gedichte von Gottfried
Benn im Rahmen einer Tanzpantomime offerierte, war das insgesamt gut verknotet
und szenisch dicht. Diesmal gab's leider auch Leerlauf. Meist an den Nahtstellen.
Der Schöpfer meint, sein Werk sei weder Schauspiel noch Tanzabend. Eine Meditation
darüber, ob etwa ein neues Genre geboren wurde, ist müßig. Mir scheint diese Mischung
von poetischem Vortrag, Tanz, Pantomime und eingespielter Blas- oder Rockmusik
so etwas wie ein theatrales Feuilleton. Und als solches ist es letztlich denn
doch recht kurzweilig. Weil nicht nur mit Phantasie angerichtet, sondern auch
offen für allerhand Assoziationen.
Schon im Wandelgang machen Hunderte akkurat aufgereihte
Aktenordner neugierig. Auf leerer Bühne dann tief im Hintergrund ebenfalls
Aktenordner in langer Reihe. Ein leicht hinkender Bürohengst trägt unermüdlich
weitere Exemplare herbei, um sie schließlich auch längs der Rampe zu
positionieren. Der dies bewerkstelligt, heißt Gerd Preusche, ist angestellter Schauspieler
des Hauses und laut Programmzettel diesmal auch für die Bühne zuständig.
Dort ist mittlerweile eine Schau in Gang gekommen, die die
Erkenntnis ins ironische Bild zu bringen versucht, die Epoche des Angestellten
sei angebrochen. Das Jahrhundert des Proleten hingegen sei zu Ende. Was für
Westeuropa zutreffen mag. Das Zeitalter des Angestellten nun - so Kriegenburg
- ist auf vertrackte Weise vor allem mit Papier, Schreibmaschine und Computer
vernetzt. Da, denke ich, fehlen wesentliche Merkmale. Aber bitte: Die
Angestellten verkommen zum Klischee. Sie befreien sich zwar kurzzeitig daraus
mit etwas Liebe, doch sie bleiben willfährige Ver- und „Zerwalter" sozialer Angelegenheiten. Was sie durchaus nicht glücklich
macht. Man kann das sehen und hören.
Zum Beispiel finden sich eine süße
Tipp-Mamsell (Kathrin Angerer) und besagter Bürohengst zu tragikomischem Duett.
Zunächst weiß sie nicht, wohin das Schreiben zu richten, das sie mit großer
Mühe erstellt hat. Sie beklagt das lebhaft, während er sich kaputtlacht. Als
Rockklänge ertönen, lenkt das die Kleine ab vom bösen Bürodasein, entführt sie in
die schöne Welt des Tanzens und bringt sie dem Mann näher. Aber die
Zweisamkeit, so zärtlich und traulich sie sich entfalten mag, wird immer wieder
gestört durch rüde Quälereien, die sich die zwei mit Lust und Inbrunst
zufügen. Das wiederum hindert sie nicht, inniglich vom Kino und vom Eis von
Mövenpick zu schwärmen. Diese Kinder des modernen Angestellten-Zeitalters sind
nicht aufgeklärt. Im Gegenteil, sie sind, eingesperrt ins System, königlich
naiv.
Mithin: Vom Aufstand ist nur die Rede. Und
das ist schon allerhand für Angestellte! Denn sie fungieren, unermüdlich, unerschütterlich.
Ihre Kommunikation ist immer weniger eine zwischen Mensch und Mensch, sondern
zunehmend und überhaupt eine zwischen zu abstraktem Wesen denaturiertem
Individuum einerseits und Drehstuhl, Tisch und Computer andererseits. Ja, der Computer
ersetzt sogar die Geliebte. Wenn der Angestellte (Ulrich Voß) seiner Angebeteten
(Amina Gusner) die Bluse öffnet, quellen Papierbahnen hervor. Welch
schauerliche Epoche!
Kein Wunder, daß „der Erlöser" (Winfried Wagner)
und „die Erlöserin" (Alit Aryani) -auch nur Angestellte, aber zwei
immerhin, die in tänzerischer Begegnung noch sinnliche Beziehungen aufzunehmen
vermögen - in dieser entmenschten Realität zugrunde gehen, gekreuzigt auf
einem Altar aus Büromöbeln, von einem himmlischen Beamten (Torsten Ranft)
verspottet.
Kein spektakulärer, doch ein origineller
Abend, serviert von engagierten Angestellten.
Freundlicher Beifall.
Neues
Deutschland, 22. September 1994