„Das Atelier“ von Jean-Claude Grumberg im Berliner Renaissance-Theater, Regie Felix Prader

 

 

Dulden und Hoffen

 

 

Zunächst scheinen sich im „Atelier“, einem Drama des Franzosen Jean-Claude Grumberg, nur kleinliche Querelen abzuspielen. Fünf Schneiderinnen, die 1945 beim jüdischen Meister Léon Arbeit gefunden haben, sind sich nicht recht grün. Da gibt es Streit um den günstigsten Platz am Fenster, um diese oder jene Lappalie, und natürlich den üblichen Tratsch zwischen Frauen unterschiedlichen Alters und Herkommens. Kichern und Lachen, Sticheln und Schimpfen. Madame Laurance (Monika Hansen) zum Beispiel, die Frau eines Beamten, legt sich gern mit Mimi (Imogen Kogge) an, die selbstbewusst ordinär zu schwätzen versteht und in der kleinen Truppe den Ton angibt.

 

Krieg und Faschismus haben bei den französischen Frauen unterschiedliche Spuren hinterlassen. Gisèle (Sabine Herken) vergleicht oberflächlich zwischen deutschen Besatzern und amerikanischen Befreiern. Sie hat so ihre Vorbehalte. Mimi hingegen hat keine Skrupel, mit Amis auszugehen. Auffällig zurückhaltend benimmt sich Simone, eine Jüdin, Mutter zweier Kinder. Sie ist noch neu hier und kämpft erst einmal nur darum, ihren Arbeitsplatz zu behalten. Eher zufällig lässt sie verlauten, dass ihr Mann deportiert worden ist. Die Kolleginnen reagieren kaum. Den Alltag unter der Okkupation möchte man offenbar so schnell wie möglich vergessen.

 

Doch dann werden vom Autor Schritt für Schritt Biographien aufgeblättert. Holocaust. Man beginnt zu verstehen, warum dieses 1979 uraufgeführte Stück ein Welterfolg wurde und 1998 in Paris ein sensationelles Comeback feierte. Und man dankt dem Renaissance-Theater, eine böse Nachlässigkeit Berliner Bühnen endlich getilgt zu haben. Jean-Claude Grumberg hat nicht nur seiner jüdischen Mutter ein dramatisches Denkmal gesetzt. Er schildert psychologisch feinsinnig den Überlebenskampf kleiner Leute im befreiten Frankreich und deckt auf, wie verhängnisvoll die Einzelne oder der Einzelne in die Verhältnisse verstrickt war und grausame Erlebnisse nun als seelisches Gepäck mit sich herumschleppt.

 

Bedrückung und Aufatmen, unterdrückter Kummer und schwelende Hoffnung. Die Befindlichkeiten der Gestalten wie ihre höchst komplizierten Beziehungen hat Regisseur Felix Prader mit viel Verständnis szenisch subtil aufbereitet. Leider stattete Bühnenbildner Gerhard Gollnhofer die kleine Schneiderwerkstatt Léons für damalige Zeit und Verhältnisse zu unlädiert picobello aus, so dass die Atmosphäre des Nachkriegs allein durch die Schauspieler hergestellt werden muß. Was sie glücklicherweise glänzend bewältigen.

 

Udo Samel, einst Star der Schaubühne, spielt den Schneidermeister Léon, der wie ein Patron in seinem Atelier regiert. Ein kleiner, wuchtiger Mann gibt mit kurzer, knapper Geste seine Anweisungen, staucht die Frauen zusammen, wenn sie seines Er-achtens zu wenig oder zu ungenau arbeiten. Er hat ein Herz, wenn Marie (Yasmina Djaballah), eine seiner Schneiderinnen, Hochzeit feiert. Er versucht, seinen ersten Bügler (Günter Barton) zu verstehen, der sich als Deportierter offenbar mitschuldig gemacht hat bei der Selektion im Lager ankommender Häftlinge. Ihm vertraut er sich eines Tages an. Ihm erzählt er, wie er sich als Jude versteckt hatte, um zu überleben. Udo Samel gibt dem Léon bärbeißige Beherztheit und legere Abgebrühtheit eines kleinen Mannes, der einfach weiß, dass es überall „Scheiße“ ist, und der dennoch nicht aufgibt.

Simone, noch immer auf die Rückkehr ihres Mannes hoffend, wird von Sona MacDonald als eine still duldende Frau vorgeführt, die schließlich nur noch um Papier kämpft  -  um einen Totenschein wegen der Rente. Und als sie das Dokument endlich in den Händen hält, ist sie zu Empörung nicht mehr fähig. Léons Frau Hélène (Ulrike Jackwerth) hingegen schreit ihren Protest heraus: Da wird von französischen Behörden einfach verschwiegen, dass Simones aus Rumänien stammender jüdischer Mann von den Nazis in ein KZ deportiert wurde. Léon muß sie beruhigen. Rigoros verlangt er, sich der Gegenwart zu stellen. Und die ist in Gestalt des geschäftstüchtigen Max (Matthias Günther) ganz nah, der versprochene Lieferung verlangt und Léon wie seine Angestellten in arge Bedrängnis bringt.

 

Noch eben tragisches Lebensschicksal, und schon umwerfend komische Verquickungen. Das Stück, gleichsam eine Chronik, ist ein bewegendes Beispiel für einen nach 1945 sehr lebendigen Humanismus. In unüblicher Bauweise, mittels kompakter, in sich relativ geschlossener Szenen über die Jahre 1945 bis 1952, erzählt es menschlich verständnisvoll und ist als Erinnerung und Mahnung noch immer aktuell. Das Publikum dankte mit herzlichem Beifall auch dem anwesenden Autor.

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Neues Deutschland, 6. November 2000