11. Die Hochschule (1981)

 

 

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11.4  Das methodische Arsenal

Anlässlich des Festaktes konnte den Gästen eine Publikation überreicht werden: «Schauspielen — Handbuch der Schauspieler-Ausbildung». In dem von Gerhard Ebert und Rudolf Penka im Henschel-Verlag herausgegebenen Buch wird von den Pädagogen der Schule der Versuch unternommen, was in ständiger Abwandlung und Entwicklung begriffen ist, nämlich ihre schauspielpädagogischen Praktiken, mit dem Wissens- und Erfahrungsstand von etwa 1978/80 festzuhalten.

«Es geschah dies», heißt es im Vorwort, «zunächst einmal als ein längst fälliger Akt notwendiger Selbstverständigung. Was tun wir denn eigentlich? Wie machen wir das überhaupt: Schauspieler ausbilden? Ganz eigennützig lag uns daran, aufzubereiten, was nach rund dreißigjährigem schauspielpädagogischem Wirken... entstanden ist, sich bewährt hat und mehr oder weniger lebendig weitergegeben wurde und wird...» (11.8)

Umstritten wie jede Methode und immer wieder in Frage gestellt, hat sie sich letztlich insofern bewährt, als Absolventen der Schule seit Jahrzehnten an den Theatern und in den elektronischen Medien hervorragend arbeiten. Ein bei dogmatischen Funktionären oder ahnungslosen Feuilletonisten beliebtes Thema ist die in regelmäßigen Abständen auftauchende Behauptung, an der Schule werde die Persönlichkeit des Studenten gebrochen. Solch Mär geht meist von Betroffenen aus, die spüren, dass mit ihnen etwas vorgeht, dass sie sich in ihrer Persönlichkeit verändern – und dabei nicht begreifen, dass ihre Persönlichkeit nicht gebrochen, sondern aufgebrochen wird, nämlich Möglichkeiten in ihnen freigelegt werden, die in ihnen schlummerten und deren sie bislang gar nicht bewusst waren, geschweige denn, dass sie sie hätten nutzen und einsetzen können.

Im Rahmen vorliegender Schrift kann nur auf einige Merkmale des methodischen «Arsenals» aufmerksam gemacht werden.

Zunächst sei die Prämisse festgehalten: «Wir gehen vom Schauspieler aus. Und von den Menschen, die er darstellt. Es sind dies tätige Menschen, liebende, hassende, kämpfende, unterliegende und triumphierende, sich durch ihr Tätigsein verändernde. Der Schauspieler beobachtet sie. Seine Beobachtung ist nicht wertfrei. Sie wird beeinflusst von dem Bild, das sich die Gesellschaft, in der er lebt, vom Menschen macht... So schälten sich über die Jahrhunderte viele und unterschiedliche Menschenbilder heraus, letztlich immer kompliziertere Empfehlungen für den Schauspieler. Zerrbilder blieben nicht aus - auch nicht auf der Bühne. Realistische Schauspieler jedoch, gute Beobachter, vermochten den Menschen immer differenzierter und wahrer darzustellen. Zu diesem Zweck verfeinerten und bereicherten sie ihre Ausdrucksmittel.» (11.9)

So sehr einerseits ganz normalerweise Verfeinerung und Bereicherung der Ausdrucksmittel fortschreiten, so sehr wächst andererseits die Gefahr, dass sich die Schauspielkunst von ihrer ihr Wesen bestimmenden mimetischen Basis löst. Deshalb dient die gesamte Grundausbildung, das Improvisations-Seminar, (11.10) dem Training der Beobachtungsfähigkeit des Schauspielers (nach Brecht ein Hauptteil der Schauspielkunst). Schauspielen wird als eine künstlerische sinnlich-praktische Arbeitstätigkeit begriffen, deren Spezifik darin besteht, dass sie Mimesis (11.11) menschlichen Handelns ist und zwar als Spiel.

Diese hochqualifizierte Arbeitstätigkeit zu erlernen, gelingt organisch und insofern am besten im Nachvollzug ihrer Genesis. An deren historischen Anfang stand die Improvisation (lebendig schon im vorantiken Mimus), zunächst noch mehr Spiel als Arbeit. Die Improvisation ist der eigentliche elementare Schöpfungsakt des Schauspielers. (11.12) Eben dieser Schöpfungsakt wird im Improvisations-Seminar bewusst trainiert, und von daher dann Schritt für Schritt die Fähigkeit der Studenten entwickelt, die in der Improvisation erfundene Figur und die dazu gefundenen Vorgänge durch Fixation festzuhalten (von den «Skizzen» zur «Zeichnung»). In der Improvisation entstehende Spieldetails exakt und doch immer wieder frisch (als soeben neu erfunden!) wiederholen zu können, wird besonders geübt. Das bewusste Beherrschen der widersprüchlichen Dialektik von Improvisation und Fixation gehört - der Vergleich sei erlaubt - zur «Schlüsseltechnologie» der Schauspielkunst. Es ist Voraussetzung für den Übergang zur Arbeit mit dem Autorentext. Auch hier bietet sich die Anlehnung an die genetische Entwicklung:

Mit der historisch entstandenen Möglichkeit, die schriftliche Fixierung eines Autorentextes am Schreibtisch vorzunehmen, so dass er nicht mehr als ureigenes Produkt des Mimen in der Improvisation entstand, führte zur vom Schauspieler unabhängigen Dichtkunst und zur von ihr abhängigen Schauspielkunst. (11.13)

Daher wird im Improvisations-Seminar die Fähigkeit der Studenten entwickelt, die Texte — zunächst eigene, schließlich die des Autors - mimetisch elementar aus dem improvisierten Spiel entstehen zu lassen, und zwar nicht als Sprech-, sondern als Schau-Spieler. Nach dem Gesetz von der Negation der Negation (Hegels geniale Entdeckung) führt die schauspielerische Fixation zur Negation der Improvisation, und diese kann der souveräne Schauspieler (auf hohem ästhetischem Niveau) wiederum negieren, indem er die gefundene Fixation im abendlichen Spiel während der Vorstellung mit ihren jeweiligen Besonderheiten flexibel gibt wie eine Improvisation.

Dem Hauptfach ordnen sich alle übrigen Lehrgebiete zu, speziell die Sprecherziehung und die Bewegungsfächer. (11.14) Ist dergestalt die realistische Basis des Schauspielens gelegt, so dass der angehende Schauspieler das ABC der Schauspielkunst (11.15) beherrscht, kann er viele Handschriften schreiben. Dann ist er zugleich allergisch gegenüber Versuchen, seinen ureigenen künstlerischen Schöpfungsprozess zu ignorieren, wie dies Regiediktatoren zuweilen bewusst oder unbewusst tun.

 

In dieser Zurüstung entsprach das methodische Arsenal zu hohen Graden den Forderungen, die Bertolt Brecht an den Schauspieler stellte. In seinem „Kleinen Organon für das Theater“ hatte er postuliert, dass neben der Beobachtung „die Wahl des Standpunktes“ ein anderer Hauptteil der Schauspielkunst sei und der müsse „außerhalb des Theaters gewählt werden“. (11.16) Seine Maßgaben für den Schauspieler gipfelten in der 55. These seines Organons, die da lautet:

 

Ohne Ansichten und Absichten kann man keine Abbildungen machen. Ohne Wissen kann man nichts zeigen; wie soll man da wissen, was wissenswert ist? Will der Schauspieler nicht Papagei oder Affe sein, muß er sich das Wissen der Zeit über das menschliche Zusammenleben aneignen, indem er die Kämpfe der Klassen mitkämpft. Dies mag manchem wie eine Erniedrigung vorkommen, da er die Kunst, ist die Bezahlung geregelt, in die höchsten Sphären versetzt; aber die höchsten Entscheidungen für das Menschengeschlecht werden auf der Erde ausgekämpft, nicht in den Lüften; im „Äußern", nicht in den Köpfen. Über den kämpfenden Klassen kann niemand stehen, da niemand über den Menschen stehen kann. Die Gesellschaft hat kein gemeinsames Sprachrohr, solange sie in kämpfende Klassen gespalten ist. So heißt unparteiisch sein für die Kunst nur: zur herrschenden Partei gehören.“ (11.17)

 

 

 

 

 

Anmerkungen:

 

11.8   Schauspielen — Handbuch der Schauspieler-Ausbildung, Berlin 1981, S.9    Zurück zum Text

11.9   Schauspielen — Handbuch..., a.a.O., S. 41    Zurück zum Text

11.10   Das Improvisations-Seminar ist das ehemalige Etüden-Seminar (das aus dem Stanislawski-Seminar hervorgegangen war), sich aber wegen des wesentlichen Unterschiedes zwischen Improvisation und Etüde qualitativ vom ehemaligen Etüden-Seminar unterscheidet. Die neue Qualität geht auf das Wirken von Rudolf Penka zurück, anteilig auch auf Heinz Hellmich und Veronika Drogi. Vgl. hierzu: Gerhard Ebert, Improvisation und Schauspielkunst, Berlin 1979, S. 135f; vgl. auch Schauspielen - Handbuch..., a.a.O., S. 111    Zurück zum Text

11.11   Mimesis ist in ihrem ursprünglichen Wesen sinnlich-praktische leibhafte Nachahmung von Menschen und Tieren, Vgl. G. Ebert, Improvisation und Schauspielkunst, a.a.O., S. 88f    Zurück zum Text

11.12    Diese schauspieltheoretische Grunderkenntnis wird mittlerweile international geteilt. Vgl. Theater-Lexikon, Zürich und Schwäbisch Hall 1983, Spalte 668; vgl. auch Hans-Wolfgang Nickel, Improvisation, in: Manfred Brauneck/ Gérard Schneilin, Theaterlexikon, Hamburg 1986, S. 411    Zurück zum Text

11.13   Vgl. G. Ebert, Improvisation..., a.a.O., S. 22f    Zurück zum Text

11.14   Vgl. Schauspielen - Handbuch..., a.a.O., S.189f    Zurück zum Text

11.15   Vgl. Gerhard Ebert, ABC des Schauspielens, Henschel-Verlag 2004    Zurück zum Text

11.16   Bertolt Brecht, Kleines Organon für das Theater, in: Schriften zum Theater, Berlin 1964, S. 45   Zurück zum Text

11.17...Ebenda   Zurück zum Text

 

 

 

 

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