„Antigone“ von Sophokles am Berliner Ensemble / Gastspiel mit Ekkehard Schall,

Regie Hansgünther Heyme

 

 

 

 

 

Zukunft des europäischen Theaters?

 

 

Wie auch immer eine Theateraufführung zustande gekommen sein mag - auf der Bühne zählt allein das, was zu sehen ist, wenn sich der Vorhang öffnet. Jetzt gastierte mit „Antigone" von Sophokles eine seltsam inhomogene Truppe im Berliner Ensemble. Wie im Programmheft mitgeteilt, handelte es sich um eine Co-Produktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen, dem Theater an der Winkelwiese Zürich, dem Theater Westend Zürich, dem Theätre Vidy-Lausanne E. T. E. und dem Atelier de Recherche et de Creation artistique (ARG) Romainmotier. Gepriesen wird das Unternehmen als Modell für mögliche zukünftige europäische Theaterarbeit. Zu sehen waren Szenen von befremdlichem Dilettantismus. Wenn nicht Ekkehard Schall als Kreon agiert hätte, von der Verurteilung eines Tyrannen wäre kaum etwas über die Rampe gekommen.

 

Wie Hansgünther Heyme, ein noch immer namhafter Regisseur, sich für dieses Experiment bereit finden konnte, wird sein Geheimnis bleiben. Er selbst zeichnete verantwortlich auch für die Ausstattung, war aber offenbar mittellos, baute einen hölzernen Thron auf die Bühnenmitte, plazierte links einige Rupfen-Vorhänge als Türen, rechts eine Batterie Scheinwerfer. Zu empfinden war diese Szenerie als Stätte mittelalterlich dunkler Zeremonie, doch nicht als Ort antiker Tragödie. Die nämlich kommt ohne großes Tor in der Mitte der Bühne eigentlich nicht aus. Nun gut. Warum nicht mal anders?

 

Aber der Chor! Die 15 thebanischen Stadtältesten sind - das liebe Geld eben! - reduziert auf fünf Personen, denen Giovanna Marini für ihre Verse eine Musik geschrieben hat, die sich so absolut gegen die Sprachdiktion richtet, daß deren Singsang einfach nicht zu verstehen ist. Worum es geht, wird vom Chor kaum vermittelt. Daß diese wie arabische Derwische kostümierten tänzelnden Gestalten offenbar eine gewisse Macht in Theben darstellen, ist nur aus dem Spiel Kreons zu rezipieren, der sie nämlich ziemlich respektvoll behandelt, sie allerdings in Rage auch mal verprügelt.

 

Ekkehard Schall also gibt den Kreon. Während um ihn herum theatert wird, spielt er gestisch differenziert Vorgänge, läßt er erleben, wie dieser König um die Gunst der Thebaner buhlt, wie er - oh ja Sophokles! - gegen die verheerende Macht des Geldes wettert, wie er nicht glauben mag, daß Antigone gegen sein Gesetz verstoßen hat. Schall bietet eine Fülle genauer Details, ein Souverän der Bühne nach wie vor. Manchmal räkelt sich dieser Kreon auf seinem Thron wie einst Azdak auf seinem Richterstuhl und Zeiten großen deutschen Theaters kommen einem in die Erinnerung.

Aber dann tritt Antigone auf, und schon macht sich tiefe Provinz auf der Bühne breit. Marina Matthias ist ein Vorwurf eigentlich nicht zu machen, denn natürlich wagt sie die Aufgabe mit einem renommierten Regisseur und einem berühmten Partner. Aber sie ist ihr nicht gewachsen. Ein ausdrucksloses Mädchen kann nur laut und leise sprechen, aber stets so unsinnlich, so gedankenleer, daß kaum nachvollziehbar ist, worin Antigones Schicksal besteht.

Der Gipfel der Provinzialität: der Schauspieler Peter Kaghanovitch spielt gleich vier Rollen, nämlich die Ismene, die Schwester Antigones, den Wächter, Kreons Sohn Haimon und den blinden Seher Teiresias. Soviel Unverfrorenheit im Umgang mit Rollen ist mir überhaupt noch nicht über den Weg gelaufen. Ich gebe zu, die Ismene überraschte mich. Ich hielt sie für eine verdammt alte Schachtel. Den Wächter legte Kaghanovitch sogar ganz achtbar hin. Da war er unmittelbar, hatte er Ausdruck. Aber als blinder Seher, den er mit Bernhard-Minetti-Stimme bellte, war er so unerträglich, daß von der entscheidenden Wende des Stückes einfach nichts zu erfahren war. Plötzlich neigte sich Kreon ergeben und schien vom Leben etwas begriffen zu haben.

Nein, nein, so kann, so darf zukünftige europäische Theaterarbeit nicht sein! Es sei denn, man will die Schauspielkunst ruinieren.

 

 

Neues Deutschland, 26. Juni 1995