„Antigone“ von Sophokles am Berliner
Schiller-Theater, Regie Leander Haußmann
Wie ungern
Regierende zu lernen pflegen
Am Berliner Schiller Theater macht
Bühnenbildner Bernhard Kleber neugierig. Für „Antigone" von Sophokles (in Coproduktion
mit den Salzburger Festspielen und dem Bayerischen Staatsschauspiel) erstellte
er einen faszinierenden Kunstraum. Ein mächtiger Konferenztisch, vielleicht auch
eher eine Art Biertisch, im Zentrum der Bühne. Ihn umrahmend ein goldenes Portal.
Etwa in Bühnenmitte ein großes Pendel. Seitlich rechts Tierskelette in einer
Glasvitrine. Auf einem Prospekt im Hintergrund braun-violett leuchtend eine
Berglandschaft mit See. Wofür das alles und diverse Requisiten noch? Für Hauptmann,
Strindberg, Beckett, Müller? Leander Haußmanns Antwort bringt einen ins
Grübeln. Der Regisseur gibt kein hehres Schicksalsdrama. Was von Vorteil ist.
Er gibt Sophokles als psychologischen Realisten. Was leider nicht nur Vorteile hat.
Es zerfranst die Vorgänge, macht sie klein.
Ein Nachteil zusätzlich: Haussmann besetzte Tyrann Kreon mit einer Frau.
Weil Tyrannis weiblich ist? Oder sollte die schließliche Einsicht des Königs
mittels Frauentränen mehr zu Herzen gehen? Ich weiß es nicht. Margit Carstensens
Gestik ist obendrein körperlich eng, so gar nicht königlich, auch nicht tragödisch,
eher mütterlich und hausfraulich. Nun gut. Was kommt rüber von der Fabel? Bei
Sophokles weigert sich König Kreon, den Ödipussohn Polyneikes, der als
Landesverräter über Theben hergefallen und dabei durch des Bruders Hand
umgekommen ist, nach der Götter und der Väter Sitte zu bestatten. Antigone, die
Schwester Polyneikes', durchbricht das tyrannische Verbot.
Und Kreon läßt sie in ein Verließ werfen. Die
thebanischen Ältesten (der Chor) schwanken zunächst opportunistisch. Aber
nachdem Haimon, der Verlobte Antigones, seinem Vater tapfer widerspricht, und auch
Teiresias, der blinde Seher, dem Kreon zusetzt, engagieren sich die Alten
beherzt für Antigone. Kreon übt Einsieht. Doch es ist zu spät. Antigone und
Haimon haben sich umgebracht.
Haußmann liefert alle Stationen der Fabel.
Aber er vertraut nicht auf deren ursprüngliche szenische Gewalt und sprachliche
Kraft. Er wuchert mit naturalistischen Details. Statt Staatsaktion gibt er
sozusagen Senatsgerangel. Wobei er freilich die Rolle des Chores auf frappierende
Weise interpretiert. Da wird nicht etwa statuarisch skandiert, da wird beredt
gehandelt. Ralf Dittrich als Chorführer und
Martin Olbertz, Ivan Gallardo und Steffen Schult als Älteste sind nicht die
theaterüblichen Mummelgreise, sondern ziemlich agile Bürger, die sich clever
zwischen Herrscher und Volkesstimme hindurchzulavieren verstehen. Wenn Kreon sein
diktatorisches Regiment schließlich aufgibt, lösen sich ihre Haltungen, werden
sie sozusagen aus Hofschranzen oder zeitgenössischen Mitläufern wieder zu
Menschen. Wo sie obendrein fröhlich zu Akkordeon und Trompete greifen, ist
freilich solch eine Stelle, an der der in seine Einfälle verliebte Haußmann den
Verlockungen seiner Phantasie unkonzentriert nachgegeben hat.
Die Antigone Steffi Kühnerts
leidet darunter, daß ihr der Regisseur zu viel Umtriebigkeit aufbürdet. Da muß
sie mehrfach auf
den Tisch steigen und mit Blut und Sand theatern. Auf der Hinterbühne muß sie
im Regen hin und her fliehen. Gelegentlich muß sie den Ton einer Heroine anschlagen,
der nun wirklich überflüssig ist. Die frische Natürlichkeit der Kühnert, die Antigone
so gut zu Gesicht gestanden hätte, habe ich schmerzlich vermißt. Dennoch besticht
immer wieder, wie diese Schauspielerin wechselnde Haltungen einer Figur auszustellen
versteht.
Ein Vorzug, der dem Teiresias des Peter
Paulhofer völlig abging. Da schlurft ein russischer Wanderprediger (war er noch
eben in Gorkis Nachtasyl?), der zufällig deutsch beherrscht, in die Szene und weissagt
ein wenig aktuell. Das ist wenigstens komisch. Doch dann bleibt er berührende,
drohende Wucht seherischer Kraft so gut wie schuldig.
Gerald Fiedler als Haimon macht die Begegnung
mit dem Vater zu großer Szene. Er spricht prononciert, zerspielt seine Attacke
nicht. Haußmann liebt es, bestimmte Vorgänge, auf die er Wert legt, betont an
die Rampe zu nehmen. Das gelingt hier. Auch die Reaktion des Chores funktioniert.
„Eros", rufen die Alten, begreifend, daß die Liebe eines jungen Mannes stärker
ist als Tyrannenwillkür.
Am Ende führt die Regie die tragisch
Verstorbenen romantisch verklärend noch einmal vor. Und Kreon, wenig später einsam
im Dunkeln vor dem eisernen Vorhang wie in einer Zelle sitzend, bekennt reumütig,
„gelernt" zu haben. Was real Regierenden bekanntlich noch immer schwer
fällt.
Neues
Deutschland, 10.September 1993