„Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“
von Edward Albee im Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Martin Meltke
Seelenmörderische Eheschlacht
Für immerhin nur 3 Mark bekommt man im Berliner Maxim Gorki Theater zu Edward Albees Ehe-Horror-Stück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" ein Programmheft in die Hand gedrückt, in dem sich Matthias Kupfernagel auf 16 Seiten mit Strichmännchen und Sprechblasen grafisch austobt. Erzählend per Karikatur eine offenbar seelenmörderische Odyssee von Menschen. Womit alles gesagt scheint. Weshalb dennoch drei Stunden absitzen?
Der Schauspieler wegen: Anne-Else
Paetzold als Martha, Hansjürgen Hürrig als George. Und des Regisseurs Martin
Meltke. Sie nämlich liefern keine Karikatur. Sie liefern psychologisch
feinsinnigst zeichnende Schauspielkunst. Sie markieren nicht Oberflächen,
sondern loten in die tiefsten Abgründe menschlicher Seele. Und Gundula Köster
als Süße sowie Jörg Schüttauf als Nick, als nächtliche Gäste einer Party-Nachfeier, stehen ihnen nicht nach.
Der 1928 in Washington geborene, bei
reichen Pflegeeltern aufgewachsene Edward Albee ist ein Kenner des „American
Way of Life". Er dekuvriert gnadenlos die Perversität der Jagd nach Geld
und Erfolg. In diesem Stück kommt ein Professorenehepaar volltrunken nach
Hause. Es ist Mitternacht vorbei. Doch die erlebnishungrige Frau hat noch Gäste
geladen. Und vor diesen Fremden, schon dies ein perverses Vergnügen, schlachtet
sich das Ehepaar seelisch.
George, Professor für Geschichte, an
einem Provinz-College des amerikanischen Ostens, hat karrieresüchtig die
Tochter des Rektors geheiratet. Nach langem Berufs- und Ehekrieg, wohl auch, um
seine liberale Gesinnung zu hüten, hat er sich schließlich in sich wie in eine
Gemüts-Festung zurückgezogen. Von da führt er seine giftigen Attacken mit ironischer, weltweiser Ruhe. Hansjürgen Hürrig macht das
exzellent. Dessen trocken-sarkastische Art kann sich sehen lassen, smart
geistige Maulschellen, Fußtritte und Magenrempler zu verteilen, stets mit der
Miene unschuldiger, spitzbübischer Freundlichkeit.
Aber Martha scheint zu triumphieren.
Sie hat die manische Besessenheit, ihren Mann vor den Gästen zu demütigen, weil
er in ihren Augen ein Versager ist. Zwischendurch versucht sie ganz selbstverständlich
und nebenbei ihren Gast, den jungen Biologie-Dozenten Nick, in der Küche zu
vernaschen. Anne-Else Paetzold gibt diese Frau als eine geradezu wollüstig in
der Seele ihres Mannes bohrende Megäre.
Über die symbolische Bedeutung mag
man sich streiten, die mit der Tötung des Kindes gemeint ist, das Martha und
George nicht bekommen konnten, aber über 20 Jahre lang imaginiert hatten. Ist
amerikanischer Geschlechterkampf in absurder Version gemeint, wie Martin Esslin
es sieht? Etwa gar der amerikanische Traum vom guten Leben als eine epochale
Lüge, die platzt? Jedenfalls wehrt sich George gegen Martha, läßt den Jungen in
dieser Nacht sterben und nimmt seiner Frau, was zwar eine Lüge, aber ihr eine
seelische Stütze war. Ernüchtert sitzt das Paar am Morgen auf der Couch. Harte
Gefühlspanzer scheinen zerborsten, Zärtlichkeit scheint neu gewollt, aber
unerreichbar.
Die Aufführung zerrt an den Nerven.
Sie betrifft zwar nicht unbedingt, aber sie breitet menschliche Abgründigkeit
so millimetergenau realistisch aus, daß man Längen verkraftet. Viel, und zwar
herzlicher, Beifall.
Neues
Deutschland, 13. April 1992