„Alkestes“ von Euripides an der Volksbühne
Berlin, Regie Frank Castorf
Vom Hades an den Herd
Buh-Rufe gegen Frank Castorf. Im eigenen
Haus. In der Berliner Volksbühne. Auffällig prononciert. Wer steht dahinter?
Euripides-Fans, die den antiken Dichter „unzertrümmert" besichtigen möchten?
Oder?
Castorf hat mit der für die diesjährigen Wiener Festwochen inszenierten „Alkestes" den griechischen Tragiker nicht verbogen. Just nicht bei diesem fast 2500 Jahre alten Stück; in dem mit der Götter Hilfe eine Verstorbene, die sich für den Gatten opferte, ins „königliche" Leben zurückkehrt.
Gewiß, Castorf macht aus dem Chor der
pheraiischen Greise und einer Dienerin an des Königs Admetos Hof drei clownesk
agierende Frauen. Er verbraucht stiebendes Pulver, Bier, viel Senf, noch mehr Kartoffelsalat
und etliche Wiener Würstchen. Auch montiert er Gegenwarts-Floskeln in Dietrich
Ebeners Übersetzung. Aber deutlicher als je holt er damit, hier aus einem
uralten, vorwiegend deklamatorischen Text, eine zeitgenössisch schaubare Geschichte
ans Bühnenlicht. Er nimmt das frühe „Spiel mit dem Tod", wie schon damals
in Athen praktiziert, als ein Satyrspiel und läßt es vor neutraler Skenefront
im Guckkasten (Bühnenbild Bert Neumann) drastisch ausspielen.
Castorf sucht das Triviale in den Vorgängen,
deren nur zu menschliche Alltäglichkeit. Und er bosselt parodistische Spots,
knallige Szenen. Trauer beispielsweise, verordnete Staatstrauer wegen des Ablebens
der Königin, bringt er dadurch in Gang, daß sich Frauen geschälte Zwiebeln auf
die Augen drücken. Welch Jammer! Da heult man fast mit im Zuschauerraum und ist
ergötzt zugleich angesichts unüberbietbarer Profanität und Ironie.
Mit Einfällen dieser Art, einer
verblüffender, ausgefallener als der andere, produziert Castorf seinen Abend.
Gelegentlich gibt's Leerlauf. Auch ist nicht jeder Gag ausgewogen. Aber
kurzweilig ist solch intelligentes Alfanz-Theater auf geradezu opulente Weise. Es
ist ja keineswegs nur profaner Mimus. Es ist geschönt mit klassischer Musik.
Deklarative Texte sind opernhaft gesteigert. Und obwohl er sich immer mal
wieder zu verzetteln scheint, bleibt der Regisseur
wesentlich: in verfolgter Fabel und mit der Verspottung diverser männlicher Schwächen.
Mit der Arie „Laß mich mit Tränen
mein Los beklagen" aus Händels Oper „Rinaldo" gibt er ein Leitmotiv.
König Admetos (Robert Hunger-Bühler) hockt sich nieder zu seiner toten Gattin
und verkündet sein Leid mit Posaune. Die Frauen am Hofe (Claudia Michelsen,
Astrid Meyerfeldt, Susanne Düllmann) stimmen ein. Und die zum Sterben bereite
Königin Alkestes (Silvia Rieger) erhebt sich noch einmal aus dem Blechsarg und
singt mit.
Thanatos (Juan Carlos Carvajal), der
Tod, wie auch Gott Apollon (Harald Warmbrunn) in allergrößter Selbstverständlichkeit
ständig mittenmang, holt sich Alkestes. Hysterische Trauer am Königshof,
glatt unterlaufen vom ahnungslosen Halbgott Herakles (Gerd Preusche). Selbstbewußt
kommt der Genießer, trinkt gar nicht erst, pißt das Bier gleich aus den
Flaschen. Dann möchte er tanzen, verkündet salomonisch „Rechne nur das Heute
als dein". Als er die Wahrheit erfährt, macht er sich
kraftstrotzig auf, die Königin dem Tode abzutrotzen. Indessen gibt's Schmäh
für den Feigling Admetos durch dessen Vater Pheres, von Wilfried Ortmann
hinreißend lakonisch serviert.
Der mit verhüllter Alkestes zurückkehrende
Herakles schultert die riesige Himmelskugel, überantwortet sie Admetos, der sie
ins Publikum fallen läßt. Gedeihliches ist von diesem Regenten nicht zu
erwarten. Alkestes braucht lange Zeit, bis sie - mit Händels Melodie auf den
Lippen - zurückkraucht ins königliche Gemach. Der Alltag hat sie wieder!
„Vieles", rufen die Frauen, „vollenden
wider Erwarten die Götter." Auch dieses „niemals Erhoffte". Ist es
aber nicht eben das, was die irdischen Erfinder der Götter, die Herrschenden,
seit Jahrtausenden gebieten? Die Frau - und sei sie selbst dem Hades entronnen
- zurück an den Herd! Castorf bringt's sarkastisch auf den Punkt.
Es wird exzellent gespielt, aber
leider unterschiedlich gut gesprochen.
Neues
Deutschland, 7. Juni 1993